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Der dritte Zustand

Der dritte Zustand

Titel: Der dritte Zustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amos Oz
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Kellner und bestellte ihr ein zweites Gläschen. Und für sich eine Flasche Sprudel und noch ein Käsebrot. Die drei Verschwörer standen auf und gingen. Als sie an seinem Tisch vorbeikamen, lächelte der Siedler harmlos und verbindlich, als verstehe und vergebe er, und sagte: »Schalom und alles Gute. Vergessen Sie nicht, daß wir letzten Endes alle im selben Boot sitzen.«
    In Gedanken verlagerte Fima diesen Augenblick in ein Berliner Café am Ende der Weimarer Republik, versetzte sich selbst in die Rolle eines Märtyrers – von Ossietzky, Kurt Tucholsky – und verwarf das Ganze sofort, weil der Vergleich ihm weit hergeholt, ja fast hysterisch vorkam. Zu Annette sagte er: »Schauen Sie sich die gut an. Das sind die Typen, die uns alle in den Abgrund zerren.«
    »Ich bin schon im Abgrund«, sagte Annette.
    Und Fima: »Machen Sie weiter. Sie hatten von fatalen Frauen gesprochen.«
    Annette leerte das neue Gläschen, ihre Augen strahlten, ein Fünkchen Koketterie mogelte sich zwischen ihre Worte: »Das Angenehme bei Ihnen ist, Efraim, daß es mir überhaupt nichts ausmacht, welchen Eindruck ich bei Ihnen hervorrufe. Das bin ich nicht gewöhnt. Normalerweise ist mir, wenn ich mit einem Mann spreche, am allerwichtigsten, wie er mich sieht. Es ist mir noch nie passiert, daß ich so mit einem fremden Mann zusammensitzeund freimütig von mir rede, ohne daß mir alle möglichen Signale entgegengesandt werden, wenn Sie wissen, was ich damit meine. Daß ich wie von Mensch zu Mensch spreche. Sie sind doch nicht verletzt?«
    Fima lächelte unwillkürlich, als Annette die Worte »fremder Mann« benutzte. Sie fing sein Lächeln auf und kicherte ihm zu wie ein getröstetes Kind nach dem Weinen. Und sagte: »Was ich sagen wollte, nicht daß Sie nicht männlich sind, sondern daß ich mit Ihnen wie mit einem Bruder reden kann. Was haben uns die Dichter nicht schon mit ihren Beatrixen, Naturgewalten im Kleid, Gazellen, Tigerinnen, Möwentöchtern, Schwänen überschüttet, alles Blabla, dieser ganze Mist. Und ich sage Ihnen, gerade das Wesen des Mannes scheint mir tausendmal komplizierter zu sein. Oder vielleicht überhaupt nicht kompliziert, all diese faulen Geschäfte: Frau, gib mir Sex – und nimm ein bißchen Gefühl. Oder Gefühlstheater. Sei Hure und Mutter. Kuschende Hündin bei Tag und Pussycat bei Nacht. Manchmal meine ich, Männer liebten Sex, aber haßten Frauen. Seien Sie nicht gekränkt, Efraim. Ich verallgemeinere einfach. Sicher gibt es auch andere. Zum Beispiel Sie. Ihr ruhiges Zuhören tut mir jetzt gut.«
    Fima beugte sich vor, um ihr schnell die Zigarette anzuzünden, die sie aus der Handtasche gezogen hatte. Bei sich dachte er: Am hellichten Tag laufen die schon mitten in Jerusalem ganz offen mit Pistolen im Gürtel herum. War die Krankheit etwa von Anfang an im zionistischen Gedanken angelegt? Können die Juden denn nicht in den Lauf der Geschichte zurückkehren, ohne zu Dreck zu werden? Muß jeder, der als Kind mißhandelt worden ist, unweigerlich als Erwachsener zum Gewalttäter werden? Und bevor wir wieder in die Geschichte einstiegen – waren wir da kein Dreck? Entweder Fischke, der Lahme, oder Arje, der Körperstarke – gibt’s da keinen dritten Weg?
    »Mit fünfundzwanzig Jahren«, fuhr Annette fort, »nach zwei, drei Liebesaffären, einer Ausschabung und dem Bachelor in Kunstgeschichte lerne ich einen jungen Orthopäden kennen. Ein ruhiger, schüchterner Bursche, kein typischer Israeli, wenn Sie verstehen, was ich damit meine, ein feiner Mensch, der mich behutsam umwirbt, mir sogar täglich einen höflichen Liebesbrief schickt, aber niemals zulangt. Ein fleißiger, aufrichtiger Typ. Kocht mir gern Kaffee. Betrachtet sich als mittleren Durchschnitt. Ein Nachwuchsarzt, der Schwerarbeit leistet – Schichtdienst, Bereitschaftsdienst, Nachtwachen. Mit drei, vier Freunden, die ihm alle ziemlich ähneln. Mit Flüchtlingseltern, so feinsinnig und kultiviert wie er. Und nachknapp einem Jahr sind wir schon verheiratet. Ohne Seelenstürme. Ohne heulende Sirenen. Faßt mich an, als sei ich aus Porzellan, wenn Sie verstehen, was ich damit meine.«
    Fima hätte sie fast mit den Worten unterbrochen: Wir sind doch alle so, deshalb haben wir den Staat verloren. Aber er hielt sich zurück und schwieg. Drückte nur sorgfältig den vor sich hinsiechenden Zigarettenstummel aus, den Annette auf dem Aschenbecherrand abgelegt hatte. Und vertilgte den Rest seines Brotes, war aber immer noch hungrig.
    »Wir legen unsere

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