Der Düsterkrallenwald: Roman (German Edition)
Gedanken, den ich ihnen einpflanze, werden sie verfolgen, bis sie ihr Ziel erreicht haben. Sieh sie dir an, MiloBlaubeers, du wirst bald einer von ihnen sein. Niemand, kein Lebender und kein Toter, wird sich meinem Willen mehr entziehen können.«
Milo spürte, wie sich der Druck auf seine Brust erhöhte, als würde eine riesige Hand ihn umklammert halten und langsam zudrücken. Milo schwebte weiter auf die Brüstung zu. Sein Körper drehte sich langsam in die Waagerechte. Sein Kopf ragte bereits über den Balkon hinaus. Hunderte von toten Augen starrten zu ihm hinauf. Er wusste, dass sie nicht ihn ansahen, sondern den Ball aus göttlichem Blut und seinen Erschaffer. Aber das machte es auch nicht besser. Sobald er fiele, würden sie ihre Augen auf ihn richten.
Milo wartete darauf, die Stimme Cepheis zu hören oder wenigstens die seines Vaters, der ihm sagte, dass er selbst an allem schuld war. Doch Milo hörte keine Stimmen, nur seinen eigenen Herzschlag.
Es war vielleicht so etwas wie ein Schutzmechanismus, der Milo dazu zwang, auf eine kleine Gruppe von Untoten zu starren, die im Gegensatz zu allen anderen dem Krähenturm den Rücken zugewandt hatte. Aber es war mit Sicherheit die vorlaute Art der Halblinge und Milos Drang danach, unbedingt das letzte Wort haben zu müssen, die ihn dazu brachten, trotz seiner Panik zu sprechen: »Sie folgen Euch nicht, und auch ich werde es nicht tun.« Er versuchte, den Arm zu heben, schaffte es jedoch nicht.
Othmans Zauberhand drückte stärker zu. Milo spürte, wie sich die Rippen ins Fleisch bohrten. All seine Organe waren wie in einem Käfig eingesperrt, der enger und enger wurde. Er presste jeden Atemzug mit Gewalt in seine Lungen. Sein Herz wehrte sich gegen den Druck und pochte wie wild in seiner Brust. So musste es sich anfühlen, von einem Riesen zerquetscht zu werden, ging es Milo durch den Kopf. Gerade als er dachte, Othman würde noch ein letztes Mal zudrücken und ihn dann in die Tiefe schleudern, verlor der Zauber an Kraft.
Milo pumpte die Lungen voll Luft und zog die Schultern zurück, um sie zu lockern. Er bereitete sich darauf vor, dass die Tortur jeden Moment wieder einsetzte. Vielleicht wollte Othman ihn quälen, indem er ihm Hoffnung vorgaukelte, und ihm dann erneut mit voller Wucht seine Macht zu demonstrieren, aber der Druck des Zaubers ließ weiter nach. Milo lag wie auf einer riesigen unsichtbaren Hand drei Fuß über der Brüstung des Balkons.
»Wie könnt ihr es wagen?«, hörte er Othman fluchen. »Ich habe euch aus euren Gräbern befreit und hierhergerufen. Ohne mich wärt ihr nur ein Haufen alter, verblichener Knochen. Kommt gefälligst zurück.«
Milo sah, wie sich immer mehr der Ahnen vom Krähenturm abwandten und langsam in Richtung Norden schlurften. Hinter der Lichtung war deutlich das westliche Ende der Krähenschlucht zu erkennen. Überall zwischen den Bäumen wandelten die lebenden Toten und hielten auf den Abgrund zu wie eine zähflüssige Masse auf einen Abfluss.
Der südliche Rand der Schlucht war zum Großteil von Baumwipfeln verdeckt, aber alles, was dahinter lag, konnte Milo gut einsehen. Ihm stockte der Atem, als eine kleine Gruppe Untoter zwischen den Bäumen im Norden hervorkam und einfach in die Schlucht stürzte. Sie liefen wie blind einer nach dem anderen über den Rand des steilen Abhangs und stürzten lautlos in die Tiefe. Auch Othman hatte sie gesehen, doch im Gegensatz zu Milo war er außer sich vor Wut.
»Du machst mir das nicht kaputt!«, schrie er. »Du bist kein Gott. All deine Macht hast du nur, weil ich sie dir gegeben habe. Ich werde dir zeigen, wo dein Platz ist. Zeig dich und lass uns sehen, wer hier der Meister ist und wer der Schüler.«
Milo war bewusst, dass Othman nicht mit ihm sprach, doch mit wem sprach er dann? Mit dem Zweitgeborenen? Der Blick des Magiers ruhte auf der Schlucht im Norden. Er schien auf eine Antwort zu warten, und Milo fragte sich, wie es wohl sein mochte, wenn ein Gott das Wort ergriff. Immer mehr Untote hielten auf die Schlucht zu und wurden von ihr verschluckt.
Dann kam die Antwort, auf die Othman so gebannt gewartet hatte. Und sie sah anders aus, als Milo es erwartet hätte. Tote Körper wurden wie Wasserfontänen aus einem Geysir aus der Schlucht hoch geschleudert. Als sie wieder herabregneten, stürzten die meisten zurück in die Tiefe, doch einige blieben auch reglos am Rand der Schlucht liegen.
»Nein!«, brüllte Othman und riss die Arme drohend über den Kopf, bereit, seine
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