Der Duft des Blutes
Speicherstadt. Die letzten Touristenboote knatterten durch den Brooksfleet an der Kaffeebörse vorbei und dann unter dem Brooktorkai hindurch in Richtung Industriehafen.
Als die letzten Strahlen der Sonne hinter dem Hafen verblasst waren, bewegten sich die bleichen Lider plötzlich. Glutrote Augen glänzten in der Finsternis. Die mit einem alten Smaragd geschmückte Hand hob den hölzernen Deckel an, bis er gegen die rote Backsteinwand fiel. Die Brust unter dem schwarzen Hemd begann sich zu heben und zu senken, die bleichen Nasenflügel bebten.
Peter von Borgo sog den gewohnten Geruch in sich ein. Am kräftigsten roch der Tee, der aus Indien, Sri Lanka und Indonesien kam und in metallbeschlagenen Holzkisten direkt hinter der Bretterwand aufgestapelt war. Etwas schwächer nahm er den Kakao aus Brasilien und Ghana wahr, der einen Boden tiefer sortiert und gelagert wurde. Unter den Tee-und Kakaogeruch mischte sich ein Hauch exotischer Gewürze, denn eine weitere Treppe tiefer stapelten sich Säcke mit Chilipfeffer und Nelken, Sternanis und Cascararinde, sudanesischen Sennesschoten und sündhaft teurem Safran. Im dritten Stock lagerte ein Posten Rohseide. Die untersten beiden Böden des Speichers P am Wandrahmsfleet beherbergten die gewebten Kunstwerke eines türkischen Teppichimporteurs.
Zwei Mäuse tippelten über die Bohlen, doch die hochgewachsene Gestalt in der offenen Kiste rührte sich nicht. Noch einige Augenblicke genoss Peter von Borgo die Sinfonie der Gerüche, die in dieser sich rasant ändernden Großstadt über Jahrzehnte hinweg so tröstlich gleich geblieben waren.
Wie an jedem Abend spürte der Vampir nagenden Hunger und überlegte gerade, wo er seinen nächtlichen Beutezug beginnen sollte, als ungewohnte Geräusche sein Ohr streiften. Horchend setzte er sich auf. Stimmen wehten von der anderen Seite des Fleets zu ihm herüber. Es waren nicht die normalen Laute der Quartiersleute oder der späten Touristen. Er hörte schrille Rufe, hektische Worte und harsche Anweisungen, dann die Sirenen der Wasserschutzpolizei. Kurz darauf polterte ein heulender Streifenwagen über das Kopf Steinpflaster. Eine Megafonstimme befahl den Menschen zurückzutreten, um die Arbeit der Polizei nicht zu behindern.
Neugierig geworden, erhob sich Peter von Borgo, klopfte sich den Staub aus seiner schwarzen Hose und schlüpfte dann durch ein loses Brett in den Teespeicher hinüber. Er trat an die große, rundbogige Ladeluke und sah hinüber zum Brooksfleet. Irgendetwas ging dort drüben am Pickhuben vor sich, doch er konnte von seinem Platz, sechs Stockwerke über dem trüben Wasser des Wandrahmsfleets, nicht erkennen, was die Menschen dort unten so in Aufruhr versetzte. Der Vampir trat vom Fenster zurück, eilte leichtfüßig die Treppe hinunter und umrundete dann das kleine Fleet.
Zwei rasch aufgestellte Lichtmasten tauchten das schmutzige Elbwasser des Brooksfleets mit seinen verwitterten Kaimauern in gleißende Helligkeit. Uniformierte in beigen Hosen und schwarzen Lederjacken hatten die Straße auf beiden Seiten mit einem rot-weißen Plastikband abgesperrt und hielten knapp zwei Dutzend Neugierige zurück. Einige hatten Fotoapparate oder Mikrofone in den Händen. An der hinteren Absperrung erkannte Peter von Borgo einen Reporter der Hamburger Morgenpost, der versuchte, sich zwischen der Hauswand und einem Streifenwagen hindurchzuschieben, doch ein Polizist mit silbernem Stern auf den Schulterklappen schickte ihn zurück.
„Wie soll ich ihn untersuchen, wenn ihr ihn nicht aus dem Wasser holt!", ereiferte sich ein Mann in grauer Flanellhose, weißem Polohemd und blauem Leinensakko.
Ein untersetzter Polizist im Blau der Hafenpolizei hob beschwichtigend die Hand. „Er ist tot, da gibt es keinen Zweifel. So eilig ist das also nicht. Warten wir lieber, bis die Kripo da ist." Der Arzt knurrte unwillig und trat dann an die Kaimauer, um einen Blick hinunter auf das graubraune Wasser und seine tote Fracht zu werfen.
Peter von Borgo duckte sich unter der Absperrung hindurch. Er wusste, dass er unentdeckt bleiben würde, solange er nicht bemerkt werden wollte. Der Vampir schritt auf die Pickhubenbrücke zu, blieb aber stehen, bevor der helle Lichtkegel ihn erfasste, und beugte sich über das Geländer. Ein Stück weiter vorn schaukelte eine leere Schute auf dem Wasser. In dem durchhängenden Tau, mit dem der Kahn am Fuß des Speicherbaus befestigt war, hatte sich ein menschlicher Körper verfangen. Die Nasenflügel des Vampirs
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