Der Duft von Tee
erkenne sie wieder.
»San Malo!«, ruft der Fahrer, und ich springe auf, stoße gegen Leute, die die Farbe meines Haars anstarren, anstatt mir in die Augen zu schauen.
Überall drängen sich Touristen, jede Gruppe schleppt Taschen voll Souvenirs mit sich herum und folgt entweder einem Mann oder einer Frau mit breitkrempigem Hut und einer hochgehaltenen gelben Fahne. Ich kann über die Menge blicken, dunkle Köpfe wuseln um mein Kinn. Ich habe Pete versprochen, dass ich heute die Wohnung verlasse und diese neue Stadt erkunde, in der wir jetzt leben. Mein Vorwand, das Haus nicht zu verlassen, war, dass ich auf die Lieferung unserer Couchgarnitur warten würde, die aus irgendeinem Grund nicht zusammen mit unseren restlichen Möbeln eingetroffen ist. Aber wir wissen beide, dass ich auf ganz etwas anderes warte. Anfang der Woche hat er mich im Badezimmer erwischt, wie ich tief in der Wanne mit heißem Wasser versunken Ein Baby kommt gelesen habe. Er musste zweimal hinsehen und hat dann so getan, als hätte er nichts bemerkt, hat seine haselnussfarbenen Augen von mir abgewandt und beiläufig vorgeschlagen, dass ich mal an die »frische Luft« gehen und mir ein paar Sehenswürdigkeiten ansehen soll. Jetzt merke ich, dass ich mich so daran gewöhnt habe, mich in der Wohnung zu verstecken, dass mich die vielen Leute und die ganze Aufmerksamkeit, die mir zuteilwird, regelrecht überwältigen. Ich biege in eine Seitenstraße ab, weg von dem Geschnatter, dem Geglotze und der lärmenden Geschäftigkeit und versuche den Tempel zu finden, der in dem Reiseführer erwähnt wird.
Schon bald stehe ich vor großen Holztüren, auf die zwei kriegerähnliche Götter mit hervortretenden Augen und langen, im Wind flatternden und sich kräuselnden Bärten gemalt sind. Der Lärm der Menge ist verstummt; die schwarzen und weißen Pflastersteine hier sind verblasst und haben Risse. Der Tempel war leicht zu finden – es scheint, als hätten meine Füße den Weg bereits gekannt. Ich bleibe bei einem beschnittenen eingetopften Baum am Eingang stehen. Seine Nadeln zittern. Weihrauchschwaden quellen aus den Türen. Ich gehe die schmalen Stufen hinauf, obwohl mein Kopf und mein Herz von Zweifel erfüllt sind. Der dunkle Innenraum ist mit Statuen und Gold, Früchten und Bildern vollgestopft. Von Kerzen tropft honigfarbenes Wachs auf den Betonboden. Über meinem Kopf verbrennt Räucherwerk. Die Schwaden senken sich in dicken, safrangelben Spiralen wie seltsame goldene Schlangen von der Decke. Eine Katze huscht an mir vorbei, ihr Fell ein Mischmasch aus Schwarz, Rotbraun und Weiß. Ich keuche auf, und sie dreht sich um und sieht mich mit runden Augen an. Jemand im Inneren schnaubt verächtlich.
»Das ist nur Molly. Sie wohnt hier.« Eine chinesische Stimme, die englische Worte spricht.
Ich muss die Augen zusammenkneifen, um die Gestalt im schummrigen Licht erkennen zu können – es ist eine junge Frau in einem engen Trainingsanzug. Sie kauert ähnlich der Katze auf dem Boden und kaut Kaugummi. Ihre Augen sind dick mit Eyeliner umrahmt. Ihr Gesichtsausdruck liegt irgendwo zwischen Neugier und Langeweile, schwer zu sagen, was gerade überwiegt.
»Wollen Sie meine Tante besuchen?«
»Ist sie die Wahrsagerin?«
»Ja ja«, sagt sie schleppend, ohne zu nicken. »Hier lang.«
Sie richtet sich auf und geht in einen kleinen Hof an der Seite des Tempels. Staubflocken tanzen in der kalten Luft. Sie hält ein mit Strasssteinen besetztes Handy in der Hand, an dem ein schmales goldenes Amulett wie ein Pendel hin und her schwingt. Sie wirft mir einen Blick über die Schulter zu und deutet auf eine ältere Frau. Die Wahrsagerin ist ganz anders, als ich sie mir vorgestellt habe. Vielleicht hatte ich die weibliche Version eines bärtigen Lao-Tse in einem flatternden Seidenpyjama erwartet. Diese Wahrsagerin jedoch trägt Jeans und hockt auf einem Stuhl. Ihr nussbraunes Gesicht ist zu einer ärgerlichen Grimasse verzogen.
»Keine Sorge«, sagt die Frau in dem Trainingsanzug zu mir. »Sie hat nur schlechte Laune. Ich werde für Sie übersetzen. Ihr Englisch ist furchtbar, also sagen Sie mir einfach, was Sie wissen wollen.« Ihr Blick schweift zu meiner linken Hand, die den Griff meiner Handtasche umklammert. Dann sehen mir diese dunkel gerahmten Augen wieder direkt ins Gesicht. »Verheiratet?«
»Ja.«
»Okay, also, Geld, Gesundheit, was auch immer. Sagen Sie mir, was Sie wissen wollen, und ich werde sie fragen. Verstanden?«
Ich kenne die Frage genau, doch
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