Der dunkle Geist des Palio (German Edition)
Gefällt sie dir?«, fragte Maria kokett.
»Sie sieht dir ähnlich.«
»Und nicht nur das«, sagte Maria. »Sie trug außerdem den gleichen Namen wie ich.«
Angelo richtete sich wieder auf. Er konnte in diesem diffusen Licht ohnehin nicht erkennen, was auf der kleinen Tafel stand. Also ließ er es sich wohl besser von seiner Verlobten erklären. »Sie hieß Maria?«
»Nun, genau genommen hieß sie Eva Maria Morelli. Sie wurde 1858 als einzige Tochter meines Urururundsoweitergroßvaters geboren. Außerdem hatte er noch zwei Söhne.« Maria betrachtete nun selbst das Bild ihrer Vorfahrin. »Das Porträt stammt von 1879. Es muss also kurz vor ihrem Tod gemalt worden sein. Sie wurde nämlich nur zweiundzwanzig Jahre alt.«
»Warum? War sie krank?«
Maria schüttelte den Kopf. »Nein«, antwortete sie, »sie erhängte sich an einem Baum im Garten. Und zwar an dem Tag, der eigentlich ihr schönster werden sollte.«
Angelo runzelte die Stirn. »Das ist aber eine gruselige Geschichte«, meinte er. »Wieso hat sie das getan?«
»Sie liebte einen jungen Mann, sein Name fällt mir gerade nicht ein, aber ihr Vater war gegen die Verbindung, obwohl er ihr, aus welchen Gründen auch immer, zugestimmt hatte. Jedenfalls war der Verlobte Eva Marias auch Jockey. So wie du. Er stammte aus der c ontrada della pantera und …«
Angelo unterbrach sie: »Ein Panther! Ausgerechnet der Erzfeind des Adlers!«
Maria schüttelte den Kopf. »Nein, damals waren der Panther und der Adler noch Verbündete. Sie wurden erst durch diese Geschichte zu Feinden.«
Angelo nickte verstehend. Er wusste, wie es lief: Manchmal waren es uralte Fehden, an die sich kaum noch jemand erinnerte, die für Feindschaft zwischen den einzelnen Stadtvierteln sorgten.
Maria fuhr fort: »Auf jeden Fall war Eva Marias Vater der capitano des Adlers. Und ihr Verlobter sollte für den Panther den Palio gewinnen.«
»Das ist ja verrückt«, sagte Angelo grinsend. »Das ist ja genau wie bei uns!«
Maria lächelte versonnen. »Ja, du hast recht! Das ist mir noch gar nicht aufgefallen.« Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie es nicht recht glauben. »Auf jeden Fall hat meiner Familie das natürlich nicht gepasst. Es heißt, mein Urururundsoweitergroßvater habe seinen Schwiegersohn in spe mit unlauteren Methoden um den Sieg gebracht. Das wiederum hat den jungen Mann – und mit ihm natürlich die gesamte contrada della pantera – derart erzürnt, dass er die Verlobung aufkündigte und in einer Nacht-und-Nebel-Aktion die Stadt verließ. Eva Maria hat ihn nie wiedergesehen …«
»… und hängte sich aus Trauer auf«, beendete Angelo die Geschichte an Marias Stelle.
Maria nickte. »Ja, am 28. August 1880. Zwölf Tage nach dem Palio. Dem Tag, an dem eigentlich die Hochzeit stattfinden sollte.«
»Verrückt«, sagte Angelo nachdenklich. Dann kam ihm ein weiterer Gedanke. »Wo hängte sie sich denn auf?«, fragte er und war sich gleichzeitig nicht sicher, ob er die Antwort überhaupt hören wollte. »Doch nicht etwa hier in diesem Garten?«
Marias Nicken bestätigte seine Befürchtungen. »Doch, genau hier.« Mit einer Kopfbewegung wies sie auf das kleine Fenster, hinter dem im Dämmerlicht die Wipfel der uralten Bäume im Garten der Familie Morelli vom Wind sanft hin und her bewegt wurden. »Angeblich hat der Baum danach an jedem 28. August eines Jahres all seine Blätter auf einmal verloren.«
»Das hört sich wirklich schauerlich an!«
»Und es wird noch schauerlicher«, sagte Maria mit unheilvoller Stimme. »Denn es heißt, Eva Marias Geist habe fast vierzig Jahre lang, und zwar genau bis zum Todestag ihres Vaters, in diesen Mauern gespukt. Erst danach fand ihre geschundene Seele Ruhe.«
»Uaaaa«, machte Angelo, hob die Hände und verzog das Gesicht zu einer Grimasse.
In diesem Augenblick schwang hinter ihnen das Fenster auf und die leichte weiße Gardine davor wehte im Abendwind wie der Rock einer Tänzerin, die sich in den Armen ihres Liebsten dreht.
Maria und Angelo zuckten zusammen und wandten sich erschreckt um, als erwarteten sie, jeden Moment Eva Marias Geist im weißen Gewand durch das offene Fenster hereinschweben zu sehen. Dann lachten sie, ein wenig verunsichert, und Maria schloss das Fenster wieder.
Vom Adler Schnabel, Kralle und Flügel.
Motto des Adlers (aquila)
1
Sonntag, 15. Juli, einen Monat und einen Tag vor dem Palio
A m nächsten Morgen stand Maria in dem kleinen Badezimmer, das unmittelbar an ihr
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