Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der dunkle Schirm

Der dunkle Schirm

Titel: Der dunkle Schirm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip K. Dick
Vom Netzwerk:
Scheiß-Flaschen. Nichts drin. Keine Wanzen. Und dann hab ich’s endlich begriffen. Scheiße noch mal, ich hab begriffen, was mit seinem Gehirn los war. Mit Jerrys Gehirn.«
    Die Luft roch nicht mehr länger nach Frühling – und Freck begriff, dass er dringend einen Hit Substanz T brauchte, weil es vielleicht schon später am Tag war, als er dachte. Oder war die letzte Dosis, die er eingepfiffen hatte, geringer gewesen als angenommen? Nun, zum Glück hatte er immer einen Notvorrat dabei, ganz hinten im Handschuhfach. Er spähte aus dem Fenster und hielt Ausschau nach einem freien Parkplatz, wo er anhalten konnte.
    »Manchmal macht einem das Gehirn was vor«, sagte Donna wie aus großer Entfernung; sie schien sich zurückgezogen zu haben, schien weit weg zu sein. Freck fragte sich, ob ihr seine ziellose Fahrerei wohl auf die Nerven ging. Vielleicht lag es daran.
    Ein weiterer Phantasie-Film spulte sich plötzlich in seinem Kopf ab, ganz ohne sein Dazutun: Er sah einen großen Pontiac, aufgebockt auf einem kippenden Wagenheber, und ein Bürschchen von vielleicht dreizehn Jahren mit langen, strohigen Haaren, das sich verzweifelt gegen den wegrollenden Wagen zu stemmen versuchte und dabei zugleich grell um Hilfe schrie. Er sah sich selbst zusammen mit Jerry Fabin aus dem Haus, Jerrys Haus, stürzen und die mit Bierdosen übersäte Auffahrt hinunterrennen. Er, Charles Freck, griff nach der Wagentür auf der Fahrerseite, um sie aufzureißen und dann auf das Bremspedal zu treten. Aber Jerry Fabin, der nur eine Hose trug und nicht einmal Schuhe anhatte – er hatte gerade geschlafen, und sein Haar war wirr und zerwühlt –, dieser Jerry Fabin also rannte zum Heck des Wagens und drängte den Jungen mit seiner bloßen, bleichen Schulter, die nie das Licht des Tages sah, in letzter Sekunde von dem Fahrzeug weg. Der Wagenheber rutschte endgültig ab und fiel um, das Heck des Wagens krachte runter, die Felge und das Rad rollten davon – aber dem Jungen war nichts passiert.
    »Zu spät für die Bremse«, keuchte Jerry und versuchte, sich seine hässlichen, schmierigen Haare aus den Augen zu streichen. Er blinzelte. »Zu spät«, wiederholte er.
    »Isser okay?«, rief Freck. Sein Herz hämmerte immer noch.
    »Ja.« Jerry stand schwer atmend neben dem Jungen. »Scheiße!«, schrie er ihn dann an, um sich Luft zu machen. »Hab ich dir nicht gesagt, du sollst warten, bis wir’s zusammen machen? Wenn ein Wagenheber wegrutscht… Scheiße, Mann, du kannst doch keine fünftausend Pfund aufhalten!« Sein Gesicht zuckte. Der Junge, der von allen nur Rattenarsch genannt wurde, blickte ihn wie ein Häufchen Elend an. »Mann, ich hab’s dir doch wieder und wieder gesagt!«
    »Ich wollte auf die Bremse treten«, sagte Freck, der plötzlich begriff, wie idiotisch er sich verhalten hatte, begriff, dass er einen Fehler gemacht hatte, der genauso schwerwiegend und tödlich gewesen war wie der des Jungen. Er, ein erwachsener Mann, hatte versagt, weil er unfähig gewesen war, richtig zu reagieren. Und genau wie der Junge suchte er nun nach Worten, um sein Versagen zu rechtfertigen. »Aber ich seh jetzt ein…«, begann er – und dann brach die Phantasie-Nummer ab; eigentlich war sie nur eine exakte Wiedergabe realer Ereignisse gewesen, denn Freck erinnerte sich noch genau an den Tag, an dem sich diese Sache abgespielt hatte, damals, als sie noch alle zusammenlebten. Jerrys guter Instinkt – ohne den hätte Rattenarsch eine Sekunde später unter dem Heck des Pontiac gelegen, mit zerschmettertem Rückgrat!
    Und so war es weitergegangen: Alle drei trotteten in düsterer Stimmung zum Haus zurück, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, die Felge und den Reifen einzufangen, die immer noch die Straße hinunterrollten.
    »Ich war eingeschlafen«, murmelte Jerry, als sie das abgedunkelte Innere des Hauses betraten. »Zum ersten Mal seit Wochen haben mich die Wanzen lange genug in Ruhe gelassen, dass ich’s geschafft hab. Ich hab seit fünf Tagen keinen Schlaf mehr gekriegt – bin immer nur rumgelaufen und rumgelaufen. Ich hab schon gedacht, sie wären vielleicht weg – und sie waren weg, wirklich. Ich hab gedacht, sie hätten endlich aufgegeben und wären woandershin gegangen, zu den Nachbarn vielleicht, raus aus dem Haus. Aber jetzt kann ich sie wieder spüren… Der zehnte Anti-Wanzen-Strip, den die mir verkauft haben, oder war’s der elfte – die haben mich wieder reingelegt.« Seine Stimme klang gedämpft, nicht wütend, gedämpft und

Weitere Kostenlose Bücher