Der dunkle Schirm
Leichnam mit mir herum, Bob Arctors Leichnam. Auch wenn er klinisch gesehen noch lebt.«
Gott! Welch Dunkel hier! O grauenvolle Stille!
Öd ist es um mich her. Nichts lebet außer mir.
- Beethoven, Fidelio
Dick begann 1972 mit der Arbeit an »Der dunkle Schirm«, die endgültige Fassung entstand 1975, der Roman erschien 1977. Mit anderen Worten: Die Entstehung des Romans überbrückt die Zeit zwischen zwei subkulturellen Epochen. Dick begann den Roman, als die Kultur der Hippies in den letzten Zügen lag, und veröffentlichte ihn, als eine neue Jugendbewegung, Punk, die Gesellschaft aufmischte. »Der dunkle Schirm« reflektierte den Tod einer Ära und kündete, ohne es zu ahnen, eine neue Zeit an – in seiner Ästhetik, seiner Aussage, seiner Atmosphäre fügte sich »Der dunkle Schirm« nahtlos in den neuen subkulturellen Kontext ein: »No Fun« und »No Future«, Heroin statt LSD, Terrorismus statt Blumen im Haar, politische Desillusion statt Ideologie, Zynismus statt Hoffnungen, Nihilismus statt Utopien. Bob Arctor schwärmt zwar von Jimi Hendrix, Janis Joplin und den Rolling Stones und freut sich auf den Besuch eines Stadionkonzertes mit Donna – in Wahrheit aber liefern doch eher Bands wie die Talking Heads, die Sex Pistols, Suicide, Pere Ubu, Cabaret Voltaire, die Dead Kennedys und Devo den Soundtrack zu diesem Roman.
»Der dunkle Schirm« ist eine sehr persönliche, autobiographisch geprägte Geschichte, die unter dem Etikett »Science Fiction« mit geradezu beklemmender Präzision die Entwicklung von Zeitgeist, von gesellschaftlichen Stimmungen und ästhetischen Strömungen verarbeitet. Mehr als in anderen Romanen ist Dick in »Der dunkle Schirm« der Science-Fiction-Autor für Nicht-Science-Fiction-Fans. Man braucht die SF nicht zu mögen, man kann das Genre sogar verachten und verabscheuen und Dick trotzdem lieben und mit großem Gewinn lesen. Schließlich muss man ja auch kein Horror-Fan sein, um Kafka zu verstehen, kein Fan von kriminalistischen Spitzfindigkeiten, um Borges zu genießen.
Heute ist Philip K. Dick ein unbestrittener Klassiker der Science Fiction. Das ist schön, aber nicht genug. In einer parallelen Welt, in der gewisse Genres nicht pauschal als trivial verachtet würden, wäre Dick anerkannt als das, was er wirklich ist: Einer der kühnsten und visionärsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.
Christian Gasser
Weitere Kostenlose Bücher