Der dunkle Thron
nicht die Zulassung zur Gilde kaufen, die er braucht, um in London Handel treiben zu dürfen.«
Nick zog skeptisch die linke Braue in die Höhe, aber er gab keinen Kommentar. Lieber betrachtete er seine Schwester mit Muße. Die großen Augen, die seinen Blick voller Wärme erwiderten, waren so kornblumenblau wie seine, das Haar, das unter der vornehmen Giebelhaube hervorlugte, genauso flachsblond. Eine schmale Nase, flankiert von ein paar blassen Sommersprossen, eine hohe Stirn, ausgeprägte Wangenknochen, ein eher großzügig geratener Mund und ein energisches Kinn – Nick wusste, sie sahen sich ähnlich. Aber während diese Zutaten sich bei ihm zu einem unauffälligen Allerweltsgesicht zusammenfügten, war seine Schwester mit ihren siebzehn Jahren eine echte Schönheit geworden, stellte er fest, und die Erkenntnis machte ihn froh.
Er nahm ihren Arm und schärfte sich ein, nicht noch einmal zur Ruine hinüberzusehen. Erschütternde Anblicke konnte er im Moment nicht gebrauchen. »Komm, lass uns hineingehen. Ich sterbe vor Hunger. Wie steht es in Waringham? Alle gesund?«
Laura ließ sich willig zu dem großen Wohnhaus auf der Ostseite des Hofs führen. »Alle gesund und hoffnungslos klamm, wie üblich«, berichtete sie mit einem kleinen Achselzucken. »Brechnuss ist vom Pferd gefallen und hatte sich den Knöchel gebrochen, die Ärmste, aber inzwischen läuft sie wieder herum. So gut wie neu.«
»Schade«, knurrte Nick.
Er öffnete die Haustür, und aus der Küche zur Linken drang der Duft von geschmortem Fleisch. Nicks Magen knurrte vernehmlich. Seine Schwester betrachtete ihn mit einem missbilligenden Kopfschütteln, dann lachten sie beide und stürmten Hand in Hand die Treppe zur Halle hinauf.
»Was ist denn das für ein Gepolter?«, hörten sie das altvertraute Zetern aus der Halle. »Laura, was meinst du eigentlich …« Die Stimme brach abrupt ab, als Bruder und Schwester eintraten. »Nicholas! Was für eine wundervolle Überraschung.« Lady Yolanda Howard, die Countess of Waringham, offerierte ein strahlendes Lächeln. »Willkommen zu Hause!«
Nick trat zu ihr an den Tisch, legte sein kleines Bündel auf einen freien Stuhl und verneigte sich formvollendet, die Hand auf der Brust. »Madam.« Er lächelte nicht.
»Wie reizend, dass es dir nach zwei Jahren schon einfällt, uns zu besuchen«, bemerkte sie. Der Tonfall war trügerisch scherzhaft.
Es war verdammt lange her, dass Nick zuletzt darauf hereingefallen war. Er spürte den bitteren Zorn aufsteigen, der ihn beinah durch seine ganze Kindheit begleitet hatte, aber wenigstens hatte er gelernt, ihn nicht mehr zu zeigen. »Das hier ist kein Besuch«, stellte er klar. »Ist Vater da?«
»Natürlich. Aber ich denke, es ist besser, du störst ihn jetzt nicht. Er schreibt an einer neuen Abhandlung.«
»Worüber?«, fragte er, griff ungebeten in die Schale mit Nüssen und getrockneten Früchten, die auf dem Tisch stand, und stopfte sich eine Handvoll in den Mund. Um den ärgsten Hunger zu stillen, redete er sich ein. In Wahrheit jedoch, um seine Stiefmutter zu ärgern.
Sie ignorierte die Provokation und hob die Hände zu einer Geste der Hilflosigkeit. »Ich habe keine Ahnung, um ehrlich zu sein. Er schreibt so viele Abhandlungen über so viele Themen … Ich kann das unmöglich nachhalten.«
Nick wischte sich die etwas klebrige Hand am Hosenbein ab und wandte sich zur Tür. »Er hatte zwei Jahre Zeit, um zu arbeiten, ohne dass ich ihn hätte stören können. Ich nehme an, er wird es verkraften, wenn ich es jetzt tue. Wenn Ihr mich also entschuldigen wollt, Madam …«
Er verließ die Halle, ehe sie Gelegenheit hatte zu protestieren. Neben der geschlossenen Tür lehnte er sich für einen Moment an die Wand, legte den Kopf in den Nacken und atmete tief durch. Er hatte doch tatsächlich vergessen, wie es war, stellte er verwundert fest. Oder zumindest, wie es sich anfühlte. Diese tiefe Antipathie. Die verdeckten Sticheleien und Gemeinheiten. Der Groll. Und das schlechte Gewissen …
Als Laura acht und Nick fünf Jahre alt gewesen war, war ihre Mutter im Kindbett gestorben. Nach einer Woche war der Säugling – ein kleines Mädchen – ihr gefolgt. Nick hatte so gut wie keine Erinnerungen an seine Mutter. Er wusste, wie sie ausgesehen hatte, denn er besaß ein Porträt von ihr. Doch er argwöhnte, dass die Erinnerung an die sanftmütige blonde Frau und ihre streichelnden Hände, die sich einstellte, wenn er an sie dachte, eher dem Wunschtraum
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