Der Dunkle Turm 1 - Schwarz
und griff instinktiv nach dem Kieferknochen, der nicht mehr da war, und er rechnete damit, das Gras des uralten Hains zu spüren. Statt dessen spürte er Felsen und die dünne, kalte Höhenluft in den Lungen. Jake schlief neben ihm, aber sein Schlaf war unruhig: Er warf sich hin und her und murmelte unverständliche Worte und jagte seine eigenen Phantome. Der Revolvermann legte sich schweren Herzens nieder und schlief ebenfalls wieder.
6
Sie waren eine weitere Woche unterwegs, bevor sie das Ende vom Anfang erreichten – für den Revolvermann ein bewegter, zwölf Jahre dauernder Prolog vom endgültigen Untergang seiner Heimat bis zum Auserwählen der anderen drei. Für Jake war das Tor ein seltsamer Tod in einer anderen Welt gewesen. Für den Revolvermann war es ein noch seltsamerer Tod gewesen – die endlose Jagd nach dem Mann in Schwarz durch eine Welt ohne Karten oder Erinnerung. Cuthbert und die anderen waren nicht mehr, alle dahin: Randolph, Jamie und Curry, Aileen, Susan, Marten (ja, auch ihn hatten sie nach unten gezerrt, und Pistolenschüsse waren zu hören gewesen, doch selbst das hatte einen bitteren Beigeschmack gehabt). Bis schließlich nur noch drei der alten Welt übriggeblieben waren, drei gleich gräßliche Karten aus einem schrecklichen Tarotblatt: der Revolvermann, der Mann in Schwarz und der Dunkle Turm.
Eine Woche nachdem Jake den Fußabdruck gesehen hatte, sahen sie den Mann in Schwarz einen kurzen Augenblick der Zeit. In diesem Augenblick war dem Revolvermann, als könnte er die tiefe Bedeutung des Dunklen Turms selbst beinahe begreifen, denn dieser Augenblick schien sich zur Ewigkeit zu dehnen.
Sie gingen weiter nach Südwesten und kamen an einen Punkt etwa auf halbem Weg durch das zyklopenhafte Gebirgsmassiv, und gerade als das Vorankommen zum ersten Mal wirklich schwierig zu werden schien (die scheinbar vorspringenden eisbedeckten Simse und steilen Felsvorsprünge über ihnen weckten ein unangenehmes Schwindelgefühl in dem Revolvermann), schritten sie wieder am Rand des schmalen Passes abwärts. Ein eckiger, zickzackförmiger Pfad führte sie auf den Grund der Schlucht, wo ein an den Ufern vereister Gebirgsbach sich mit wilder, schiefergrauer Wildheit aus dem Hochland herab ergoß.
An diesem Nachmittag hielt der Junge inne und sah den Revolvermann an, der angehalten hatte, um sich in dem Gebirgsbach das Gesicht zu waschen.
»Ich rieche ihn«, sagte Jake.
»Ich auch.«
Vor ihnen hatte der Berg seine letzte Verteidigung aufgebaut eine riesige, unbezwingbare Granitplatte, welche bis in wolkenverhangene Unendlichkeiten anstieg. Der Revolvermann rechnete jeden Augenblick damit, daß eine Biegung des Baches sie zu einem tiefen Wasserfall und unbesteigbar glattem Fels bringen würde – Sackgasse. Doch die Luft hier besaß die seltsam vergrößernde Eigenschaft, die hochgelegenen Orten eigen ist, und es dauerte noch einen ganzen Tag, bis sie das gewaltige Granitantlitz erreichten.
Der Revolvermann verspürte wieder das grauenhafte Ziehen der Erwartung, das Gefühl, daß endlich alles innerhalb seiner Reichweite lag. Am Ende mußte er sich zurückhalten, um nicht in Laufschritt zu verfallen.
»Warte!« Der Junge blieb unvermittelt stehen. Sie befanden sich vor einer scharfen Haarnadelkurve des Baches; er schäumte und gischtete mit Macht um den erodierten Hang eines riesigen Sandsteinblocks herum. Sie waren den ganzen Morgen im Schatten des Gebirges dahingeschritten, während die Schlucht immer schmaler geworden war.
Jake zitterte heftig, sein Gesicht war blaß geworden.
»Was ist denn los?«
»Laß uns umkehren«, flüsterte er. »Laß uns rasch umkehren.«
Das Gesicht des Revolvermannes war hölzern.
»Bitte?« Das Gesicht des Jungen war verzerrt, sein Kiefer zitterte vor unterdrücktem Schmerz. Sie konnten sogar durch die Felsschicht ein Donnern hören, das so konstant wie Maschinen in der Erde klang. Der Ausschnitt des Himmels, den sie noch sehen konnten, hatte über ihnen eine turbulente, gotische Graufärbung angenommen – warme und kalte Luftströmungen trafen aufeinander und bekämpften sich.
»Bitte, bitte !« Der Junge hob eine Faust, als wollte er dem Revolvermann auf die Brust schlagen.
»Nein.«
Das Gesicht des Jungen nahm einen verwunderten Ausdruck an. »Du wirst mich umbringen. Er hat mich das erste Mal umgebracht, und du wirst mich jetzt umbringen.«
Der Revolvermann spürte die Lüge auf den Lippen. Er sprach sie aus: »Dir wird nichts geschehen.«
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