Wer viel fragt
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Nach meinem Mittagsimbiß
mußte ich eine weitreichende Entscheidung treffen. Sollte ich mich
zum Lesen in mein Büro begeben oder im Wohnzimmer bleiben?
Es war eine dieser
Entscheidungen, bei denen man viel über sich selbst erfährt, darüber,
wieviel Luxus man sich zu gönnen bereit ist. Das Zimmer, das ich
bewohne, ist schöner als mein Büro. Der Sessel dort ist weicher,
und man hat es nicht so weit, wenn man sich ein Glas Orangensaft holen
will. Andererseits ist um zwei Uhr nachmittags die Geschäftszeit noch
nicht zu Ende, ganz gleich, ob es Geschäfte gibt oder nicht. Und
falls sich zufälligerweise ein Klient zu mir verirren sollte, würde
es keinen guten Eindruck machen, wenn ich am Fenster im Hinterzimmer
eingenickt war.
Ich traf eine gewissenhafte
Entscheidung. Ich nahm das Kopfkissen aus meinem Bett und trug es durch
den niedrigen, rechteckigen, hellgrünen Raum, den ich mein Büro
nenne. Ich breitete das Kissen auf dem Sitz meines Schreibtischsessels aus
und ließ mich dann hineinsinken. »Müde bin ich, geh zur
Ruh'…«
Und dann begann ich wie in
den sieben Tagen zuvor mit meiner Nachmittagslektüre. Der Oktober
1970, dessen erste Hälfte jetzt ins Land gegangen war, schien sich
zum flauesten Monat meiner detektivischen Existenz zu mausern.
Um halb vier war ich wieder
wach und ging in mich: Sollte ich wieder ins Wohnzimmer zurückkehren?
Der Tag war voll von solchen Problemen. Die Geschäftszeit ging bis fünf,
aber im Nachmittagsprogramm fangen die ersten Filme bereits um halb fünf
an.
Und dann geschah das
Unerwartete. Ein Klient, nein, eine Klientin kam herein.
Ich muß überrascht
gewirkt haben, denn sie zögerte, blieb an der Tür stehen. Sie
zog eine Augenbraue hoch und sagte: »Hätte ich klopfen sollen?«
Ihr Tonfall ließ deutlich erkennen, daß sie das Schild mit der
Aufschrift BITTE EINTRETEN an der Tür sehr wohl gelesen hatte. Der
Optimismus, mit dem ich einst mein Büro eröffnet hatte, war längst
dem grauen Alltag zum Opfer gefallen. Seither bin ich deutlich träger
geworden.
»Nein, nein«,
sagte ich. »Kommen Sie herein. Setzen Sie sich.«
Sie stutzte angesichts des
staubigen Stuhls und setzte sich dann zögerlich hin. In Indianapolis
ist die Luftverschmutzung ein echtes Problem; die Stühle werden
zwischen den Klienten schnell einmal staubig.
Sie war jung. Schulterlanges,
nußbraunes Haar. Brille mit violett getönten Gläsern. Grüne
Jacke und Hose. Ich holte mein Notizbuch aus der obersten
Schreibtischschublade und schlug es auf.
»Es mieft hier drin«,
sagte sie.
Ich seufzte und bereitete
mich auf eine rasche Ernüchterung vor. Ich klappte mein Notizbuch
wieder zu. »Halt. Tun Sie das nicht. Bitte! Ich möchte, daß
Sie meinen biologischen Vater finden.«
In den wenigen Sekunden, die
unsere Bekanntschaft dauerte, hatte ich nicht bemerkt, wie angespannt sie
war, aber jetzt spürte ich ganz deutlich, wie eine Welle der
Entspannung ihren Körper durchlief. Ein junger Körper, der
geschmackvoll und zurückhaltend heranreifte.
»Ihren was?«
fragte ich milde.
»Meinen biologischen
Vater! « Eine tiefe Falte legte sich zwischen die getönten
Brillengläser. »Sie sind doch der Albert Samson, dessen Schild
da an der Tür hängt, oder nicht?«
Ich fand ihre Vermutung, daß
der richtige Albert Samson sein Geld damit verdiente, biologische Väter
ausfindig zu machen, nicht gerade schmeichelhaft. Ich gab mich
herablassend.
»Ich bin in der Tat
Albert Samson, Miss. Aber ist Ihr biologischer Vater nicht zu Hause bei
Ihrer biologischen Mutter?« Im Bett? Bei heruntergelassenen
Jalousien?
»Nein«, sagte sie
bestimmt. »Genau dort ist er eben nicht.
Werden Sie den Auftrag übernehmen?
Werden Sie meinen biologischen Vater für mich finden?«
Sie rutschte auf ihrem Stuhl
hin und her, rieb den Staub ein.
Und innerlich war sie schon längst
davongaloppiert, viel weiter vorgeprescht, als es mir lieb war. Sie sah
nach vielleicht zwanzig Jahren aus. Aber ihre Selbstbeherrschung - oder
vielmehr der völlige Mangel derselben - deutete eher auf ein Mädchen
von weit weniger Jahren hin.
Ich schlug mein Notizbuch
wieder auf und sagte: »Immer schön der Reihe nach. Ich brauche
Ihren Namen und Ihre Adresse.«
»Ich bin Eloise
Crystal. Ich wohne auf dem North Jefferson Boulevard 7019.«
Ganz wie es sich gehörte,
kritzelte ich das Datum und diese
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