Der Dunkle Turm 1 - Schwarz
kommen würde, schneller, sogar schneller als sein eigener Schrei…
Metall kreischte unter ihm, und er schritt ohne Hast darüber hinweg, verlagerte sein Gewicht und dachte nicht an den Sturz, wie weit sie gekommen waren und wieviel noch zurückzulegen blieb. Er dachte nicht daran, daß der Junge entbehrlich und der Ausverkauf seiner Ehre nun endlich beinahe abgeschlossen war.
»Hier fehlen drei Streben«, sagte der Junge gelassen. »Ich werde springen. Hier! Hier!«
Der Revolvermann sah seine Silhouette einen Augenblick vor dem Tageslicht, ein linkischer, flügellahmer Adler. Er landete, und die gesamte Konstruktion wankte trunken. Unter ihnen protestierte Metall, und ganz unten fiel etwas hinab, zuerst krachend, dann mit dem Geräusch von tiefem Wasser.
»Bist du drüben?« fragte der Revolvermann.
»Ja«, sagte der Junge aus einiger Entfernung, »aber es ist sehr verrostet. Ich glaube nicht, daß es dein Gewicht tragen wird. Mich ja, aber dich nicht. Kehr jetzt um. Kehr um und laß mich in Ruhe.«
Seine Stimme war hysterisch, kalt, aber hysterisch.
Der Revolvermann trat über die Lücke. Ein großer Schritt, und er war drüben. Der Junge schlotterte hilflos. »Geh zurück. Ich will nicht, daß du mich umbringst.«
»Um Himmels willen, geh weiter«, sagte der Revolvermann grob. »Es wird zusammenbrechen.«
Der Junge schritt jetzt wie betrunken dahin, er hatte die Hände zitternd mit gespreizten Fingern vor sich ausgestreckt.
Sie gingen aufwärts.
Ja, hier war es deutlich verfallener. Ab und zu fehlten eine, zwei, manchmal sogar drei Querstreben, und der Revolvermann rechnete ständig damit, daß sie einmal auf eine Lücke stoßen würden, die so lang war, daß sie entweder umkehren oder auf den Schienen selbst unsicher über den Abgrund balancieren mußten.
Er hielt den Blick starr auf das Tageslicht gerichtet.
Das Licht hatte einen Farbton angenommen – blau –, und je näher sie ihm kamen, desto weicher wurde es und ließ den Glanz des Phosphors verblassen, mit dem es sich vermischte. Fünfzig oder hundert Meter? Er konnte es nicht sagen.
Sie gingen weiter, und jetzt sah er auf seine Füße, die von Querstrebe zu Querstrebe schritten. Als er wieder hinsah, war das Licht zu einem Loch geworden, und es war kein Licht mehr, sondern ein Weg hinaus. Sie waren fast dort.
Ja, dreißig Meter. Neunzig kurze Schritte. Es war zu schaffen. Vielleicht konnten sie den Mann in Schwarz überlisten. Vielleicht verdorrten die bösen Blumen in seinen Gedanken im grellen Sonnenschein, und alles würde möglich sein.
Das Sonnenlicht wurde verdeckt.
Er sah verblüfft auf und erblickte eine Silhouette, die das Licht ausfüllte, es verschlang und lediglich Streifen spöttischen Blaus über den Schultern und die Gabelung zwischen den Beinen hereinscheinen ließ.
»Hallo, Jungs!«
Die Stimme des Mannes in Schwarz hallte von diesem natürlichen Sprachrohr aus Felsgestein verstärkt zu ihnen, und sein Zynismus nahm gewaltige Obertöne an. Der Revolvermann tastete blind nach dem Kieferknochen, aber der war dahin, irgendwo verloren, verbraucht.
Er lachte über ihnen, und der Laut hallte rings um sie herum und dröhnte wie die Brandung in einer vollaufenden Grotte. Der Junge schrie auf und ruderte mit den Armen, er wurde wieder zur Windmühle, seine Arme sausten durch die dünne Luft.
Unter ihnen riß Metall und kippte; die Schienen begannen ein langsames, verträumtes Schlingern. Der Junge stürzte, doch eine Hand flog wie eine Möwe in der Dunkelheit hoch, flog hoch, hoch, und dann hing er über dem Abgrund; dort baumelte er, und seine dunklen Augen sahen mit endgültigem, blindem, verlorenem Wissen zu dem Revolvermann auf.
»Hilf mir.«
Dröhnend, spöttisch: »Komm jetzt, Revolvermann. Oder du wirst mich niemals erwischen!«
Alle Chips lagen auf dem Tisch. Alle Karten aufgedeckt bis auf eine. Der Junge baumelte, eine lebende Tarotkarte, der Gehängte, der phönizische Seemann, der unschuldig gekentert war und sich in einem stygischen Meer kaum noch über Wasser halten konnte.
Warte doch, warte einen Augenblick.
»Muß ich gehen?« Die Stimme so laut, es fällt einem schwer zu denken, die Macht, den Verstand der Menschen zu umnachten…
Don’t make it bad, take a sad song and make it better…
»Hilf mir.«
Das Gerüst schwankte heftiger, kreischte, löste sich in Einzelteile auf, gab…
»Dann werde ich dich verlassen.«
» Nein !«
Seine Beine beförderten ihn mit einem einzigen Sprung durch die
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