Der Dunkle Turm 1 - Schwarz
unablässig weiter an, bis er plötzlich fast rechtwinklig abfiel und die Schienen allein in die Dunkelheit weiterführten.
Der Revolvermann ließ sich auf die Knie hernieder und sah nach unten. Er konnte sehr undeutlich ein komplexes, beinahe unglaubliches Gitter von Stahlträgern und Verstrebungen erkennen, das sich zum Dröhnen des Flusses hinab erstreckte und einzig dazu diente, den anmutigen Bogen der Schienen über der Leere zu stützen.
Vor seinem geistigen Auge konnte er sehen, wie die Zeit und das Wasser als tödliche Zweifaltigkeit an dem Stahl fraßen. Wieviel Tragkraft war noch verblieben? Wenig? Kaum eine? Keine? Plötzlich sah er das Gesicht der Mumie wieder vor sich, und das scheinbar feste Fleisch, das bei der bloßen Berührung mit dem Finger mühelos zu Staub verfallen war.
»Wir gehen zu Fuß«, sagte der Revolvermann.
Er rechnete fast damit, daß der Junge nochmals widersprechen würde, doch er schritt ruhig vor dem Revolvermann auf die Schienen hinaus und überquerte die verschweißten Stahlplatten gelassen und sicheren Fußes. Der Revolvermann folgte ihm und war bereit, ihn aufzufangen, sollte der Junge einen falschen Schritt machen.
Sie ließen die Draisine hinter sich zurück und schritten unsicher über der Dunkelheit dahin.
Der Revolvermann spürte die Rinnsale von Schweiß auf der Haut. Das Gerüst war verrostet, sehr verrostet. Es summte im Rhythmus des weit unten gelegenen Flusses unter seinen Füßen und wankte etwas an den unsichtbaren Seilverankerungen. Wir sind Artisten, dachte er. Schau her, Mutter, ohne Netz. Ich fliege. Einmal kniete er sich nieder und untersuchte die Querstreben, auf denen sie gingen. Sie waren vernarbt und vom Rost zerfressen (den Grund dafür konnte er im Gesicht spüren: frische Luft, der Freund des Verfalls; sie waren jetzt sehr nahe an der Oberfläche), und ein kräftiger Fausthieb brachte das Metall auf übelkeiterregende Weise zum Erzittern. Einmal hörte er ein warnendes Ächzen unter seinen Füßen und spürte, wie der Stahl sich anschickte nachzugeben, aber da war er schon weitergegangen.
Der Junge war natürlich mehr als hundert Pfund leichter und ziemlich sicher, wenn das Vorankommen nicht noch unsicherer wurde.
Die Draisine verschmolz hinter ihnen mit der allgemeinen Düsternis. Der Felspier zu ihrer Linken erstreckte sich etwa sechs Meter. Weiter als der rechts, aber auch dieser blieb zurück, und dann waren sie allein über dem Abgrund.
Anfangs schien es, als würde das winzige Lichtpünktchen auf spöttische Weise konstant bleiben (vielleicht entfernte es sich mit derselben Geschwindigkeit von ihnen, wie sie darauf zuschritten – das wäre wahrhaft ein wunderbarer Zauber), aber allmählich merkte der Revolvermann, daß es größer und deutlicher wurde. Sie waren immer noch darunter, aber die Schienen stiegen immer noch an.
Der Junge stieß einen Überraschungsschrei aus und kippte plötzlich zur Seite, wobei seine Arme langsame, kreisende Bewegungen ausführten. Es schien, als würde er tatsächlich sehr, sehr lange über dem Abgrund hängen, bevor er weiterging.
»Fast hätte es mich erwischt«, sagte er emotionslos. »Steig darüber hinweg.«
Der Revolvermann gehorchte. Die Strebe, auf die der Junge getreten war, hatte fast völlig nachgegeben und wippte träge nach unten; sie hing an einer rostzerfressenen Schraube wie der Fensterladen eines Spukhauses.
Aufwärts, immer noch aufwärts. Es war ein alptraumhafter Spaziergang, der viel länger zu dauern schien, als er tatsächlich dauerte; die Luft selbst schien dicker und wie Gallertmasse zu werden, und dem Revolvermann war zumute, als würde er mehr schwimmen als gehen. Sein Verstand versuchte immer wieder zu der gründlichen, verrückten Überlegung zurückzukehren, welch schrecklicher Abgrund zwischen den Schienen und dem unterirdischen Fluß klaffte. Sein Verstand sah alles, wie es sein würde, in spektakulären Einzelheiten vor sich: Das Kreischen von nachgebendem Metall, der Ruck, wenn sein Körper zur Seite kippte, wie er mit den Fingern nach einem nichtvorhandenen Halt griff, das rasche Klappern von Absätzen auf verräterischem, rostigem Stahl – und dann abwärts, er würde sich immer um sich selbst drehen, warme Flüssigkeit zwischen den Beinen spüren, wenn seine Blase nachgab, den Wind im Gesicht fühlen, der sein Haar wie bei einer Comic-Version von Angst zu Berge stehen lassen würde, der ihm die Lider aufreißen würde, dann das dunkle Wasser, das ihm entgegengerast
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