Der Dunkle Turm 2 - Drei
obwohl der Revolvermann (der lediglich staunend noch größere und anmutigere Bauwerke betrachten konnte, und Brücken, die einen breiten Fluß wie stählerne Spinnweben überspannten, und Luftgefährte mit Rotoren, die wie seltsame, von Menschenhand geschaffene Insekten oben schwebten) es nicht wußte, war der Ort, zu dem sie fuhren, der Turm.
9
Enrico Balazar glaubte – wie Andolini – nicht, daß Eddie Dean für die Bundesbehörde arbeitete; Balazar wußte es, wie Andolini.
Die Bar war leer. Auf dem Schild an der Tür stand HEUTE ABEND GESCHLOSSEN. Balazar saß in seinem Büro und wartete darauf, daß Andolini und Col Vincent mit dem jungen Dean zurückkamen. Seine beiden persönlichen Leibwächter, Claudio Andolini, Jacks Bruder, und ‘Cimi Dretto, waren bei ihm. Sie saßen auf dem Sofa links von Balazars großem Schreibtisch und sahen fasziniert zu, wie das Kartenhaus, das Balazar baute, wuchs. Die Tür war offen. Hinter der Tür folgte ein kurzer Flur. Rechts führte er in den rückwärtigen Teil der Bar und die anschließende kleine Küche, wo ein paar einfache Nudelgerichte zubereitet wurden. Links befand sich das Büro der Buchhaltung und das Lager. In der Buchhaltung saßen drei weitere von Balazars ›Herren‹ – wie sie genannt wurden – und spielten mit Henry Dean Trivial Pursuit.
»Okay«, sagte George Biondi, »das ist wieder eine leichte, Henry. Henry? Bist du da, Henry? Erde an Henry, die Erdenmenschen brauchen dich. Bitte kommen, Henry. Ich wiederhole: Bitte kommen, H…«
»Ich bin da, ich bin da«, sagte Henry. Seine Stimme war die undeutliche, nuschelnde Stimme eines Mannes, der noch schläft, seiner Frau aber sagt, daß er wach ist, damit sie ihn noch fünf Minuten in Ruhe läßt.
»Okay. Es handelt sich um die Rubrik Kunst und Unterhaltung. Die Frage lautet… Henry? Schlaf mir verdammt noch mal nicht ein, Arschloch!«
»Ich schlafe nicht!« schrie Henry quengelig zurück.
»Okay. Die Frage lautet: ›Welcher ungeheuer populäre Roman von William Peter Blatty, der im vornehmen Vorort Georgetown in Washington D. C. spielt, handelt von der dämonischen Besessenheit eines jungen Mädchens?‹«
»Johnny Cash«, antwortete Henry.
»Mein Gott!« schrie Tricks Postino. »Das sagst du zu allem! Johnny Cash, das sagst du zu verdammt allem!«
»Johnny Cash ist alles«, antwortete Henry ernst, und darauf folgte ein Augenblick des Schweigens, der in seiner nachdenklichen Überraschung fast greifbar war… und dann eine körnige Lachsalve nicht nur von den Männern, die mit Henry im Zimmer waren, sondern auch von den beiden anderen ›Herren‹ im Lagerraum.
»Soll ich die Tür zumachen, Mr. Balazar?« fragte ‘Cimi leise.
»Nein, schon gut«, sagte Balazar. Er war ein Sizilianer zweiter Generation, aber seine Sprache hatte nicht die Spur eines Akzents, und es war auch nicht die Sprache eines Mannes, dessen Ausbildung auf der Straße stattgefunden hatte. Anders als viele seiner Zeitgenossen in dem Geschäft, hatte er die High-School abgeschlossen. Hatte sogar noch mehr getan: Er hatte zwei Jahre lang die Berufsschule besucht – NYU. Seine Stimme war, wie seine Geschäftsmethoden, leise und kultiviert und amerikanisch, und das machte seine körperliche Erscheinung ebenso täuschend wie die von Jack Andolini. Leute, die seine deutliche amerikanische Stimme zum erstenmal hörten, sahen fast immer verblüfft drein, als hörten sie eine besonders gute Bauchrednernummer. Er sah aus wie ein Farmer oder Restaurantsbesitzer oder kleiner Mafioso, der eher Erfolg gehabt hatte, weil er immer zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen war, als wegen seiner Geisteskräfte. Er sah aus wie jemand, den die Klugscheißer einer vergangenen Generation ›Schnurrbart-Pete‹ genannt hatten. Er war ein dicker Mann, der sich wie ein Bauer kleidete. An diesem Abend trug er ein schlichtes weißes Baumwollhemd, das am Hals offen war (er hatte große Schwitzflecke unter den Achseln) und ebenso schlichte graue Stoffhosen. An den plumpen, bloßen Füßen hatte er braune Hausschuhe, die so alt waren, daß sie mehr wie Slipper denn Schuhe aussahen. Blaue und purpurne Krampfadern wanden sich auf seinen Knöcheln.
‘Cimi und Claudio sahen ihm fasziniert zu.
In den alten Zeiten hatten sie ihn Il Roche genannt – der Fels. Manche der Altvorderen nannten ihn immer noch so. In der rechten oberen Schublade seines Schreibtisches, wo andere Geschäftsleute Blöcke, Kugelschreiber, Büroklammern und dergleichen
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