Der Dunkle Turm 7 - Der Turm
dürfen ihn nicht diesem Sturm aussetzen. Selbst wenn wir ihm drei Lagen Kleidung anziehen würden, wäre das sein Tod, davon bin ich überzeugt.«
Susannah nickte. Davon war auch sie überzeugt. Davon und von etwas anderem: Sie konnte unmöglich in diesem Haus bleiben. Das konnte ihr Tod sein.
Roland stimmte zu, als sie das einwandte. »Wir quartieren uns draußen in der Scheune ein, bis der Sturm vorbei ist. Dort ist es zwar kalt, aber ich sehe zwei mögliche Vorteile: Mordred könnte kommen, und Lippy könnte zurückkommen.«
»Du würdest sie beide töten?«
»Aye, wenn ich kann. Hättest du damit Schwierigkeiten?«
Sie dachte darüber nach, dann schüttelte sie den Kopf.
»Also gut, dann sollten wir jetzt zusammensuchen, was wir von hier mitnehmen wollen, in den nächsten zwei Tagen werden wir nämlich kein Feuer haben. Vielleicht sogar drei oder vier Tage lang nicht.«
8
Wie sich zeigte, dauerte es zwei Tage und drei Nächte, bis der Schneesturm an seiner eigenen Wut erstickte und endlich abflaute. In der Abenddämmerung des zweiten Tages kam Lippy aus dem Schneetreiben gehumpelt, und Roland jagte dem Tier über den blinden Augen eine Kugel in die Stirn. Mordred unterdessen ließ sich zu keiner Zeit blicken, obwohl Susannah ihn in der zweiten Nacht irgendwo in der Nähe spürte. Das tat wohl auch Oy, jedenfalls hatte er am Scheunentor auf den Hinterbeinen gestanden und wütend ins Schneetreiben hinausgekläfft.
In der Zwischenzeit brachte Susannah weit mehr über Patrick Danville in Erfahrung, als sie erwartet hätte. Sein Verstand hatte unter der Gefangenschaft stark gelitten, was keine Überraschung war. Erstaunlich war eher seine Fähigkeit, sich davon zu erholen, auch wenn sie natürlich begrenzt war. Sie fragte sich, ob sie selbst nach einem solchen Martyrium überhaupt jemals wieder auf die Beine gekommen wäre. Vielleicht hatte seine Begabung etwas damit zu tun. Eine Probe seines Talents hatte sie ja bereits in Sayres Büro gesehen.
Dandelo hatte seinem Gefangenen nur eben genug Essen gegeben, um ihn am Leben zu erhalten, und ihm regelmäßig seine Emotionen gestohlen: zweimal in der Woche, manchmal dreimal, ab und zu auch viermal. Immer wenn Patrick zu der Überzeugung gelangt war, das nächste Mal nicht mehr überleben zu können, war jemand vorbeigekommen. Erst in letzter Zeit waren Patrick die schlimmsten Ausschweifungen Dandelos erspart geblieben, weil häufiger »Besuch« gekommen war als je zuvor. Als sie später an diesem Abend im Heu lagen, erzählte Roland Susannah, er glaube, dass viele der letzten Opfer Dandelos Flüchtlinge aus Le Casse Roi Russe oder der das Schloss umgebenden Stadt gewesen seien. Susannah hatte durchaus Verständnis für die Denkweise solcher Flüchtlinge: Der König ist fort, also hauen wir schleunigst ab, solange wir können. Schließlich könnte es sich Big Red in den Kopf setzen, wieder zurückzukommen, und immerhin ist er völlig durchgeknallt, hat einen Dachschaden, ist effektiv übergeschnappt.
Manchmal hatte Joe vor seinem Gefangenen seine wahre Dandelo-Gestalt angenommen, um dann vom Entsetzen des Jungen zu zehren. Allerdings hatte er von seiner gefangen gehaltenen Kuh weit mehr als nur Entsetzen gefordert. Susannah vermutete, dass unterschiedliche Emotionen auch unterschiedlich schmeckten: als äße man an einem Tag Schwein, am nächsten Tag Huhn und am übernächsten Fisch.
Patrick konnte zwar nicht sprechen, aber er konnte beredt gestikulieren. Und er konnte weit mehr als das, sobald Roland ihnen einen seltsamen Fund zeigte, den er in der Speisekammer gemacht hatte. Auf einem der Regale ganz oben hatte ein Stapel großer Zeichenblöcke mit dem Aufdruck MICHELANGELO – SPEZIELL FÜR KOHLE gelegen. Zeichenkohle gab es zwar nicht, aber neben den Blöcken hatte ein von einem Gummiband zusammengehaltener Packen fabrikneuer HB-Bleistifte von Faber gelegen. Was diesen Fund als besonders eigenartig qualifizierte, war die Tatsache, dass jemand (vermutlich Dandelo) von allen Bleistiften sorgfältig den Radiergummi abgeschnitten hatte. Die Gummis lagen mit einigen Büroklammern und einem Bleistiftspitzer, der wie die Pfeifen auf der Unterseite der wenigen verbliebenen Orizas aus der Calla Bryn Sturgis aussah, in einem Konservenglas. Als Patrick die Zeichenblöcke sah, leuchteten seine sonst so glanzlosen Augen sofort auf, und er streckte beide Hände sehnsüchtig danach aus, wobei er drängende Heultöne von sich gab.
Roland sah zu Susannah
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