Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
seinen Beinen verschwunden war. Während einer dieser Ruhepausen und in der Zeit, nachdem das Essen verschlungen, das Feuer aber noch nicht ganz niedergebrannt und sie schlafen gegangen waren, erfuhr der Revolvermann von Henry und Eddie. Er erinnerte sich, er hatte sich gefragt, was geschehen war, daß ihr Bruderverhältnis so schwierig gewesen war, aber nachdem Eddie stockend und von jenem beleidigten Zorn erfüllt, welcher aus tiefem Schmerz entsteht, zu sprechen angefangen hatte, hätte der Revolvermann ihm Schweigen gebieten und zu ihm sagen können: Spar dir die Mühe, Eddie. Ich verstehe alles.
Aber das hätte Eddie nicht geholfen. Eddie redete nicht, um Henry zu helfen, weil Henry tot war. Er redete, um Henry für immer zu begraben. Und um sich daran zu erinnern, daß Henry zwar tot war, aber er, Eddie, nicht.
Daher hörte der Revolvermann zu und sagte nichts.
Der Kernpunkt war einfach: Eddie glaubte, daß er seinem Bruder das Leben gestohlen hatte. Das glaubte Henry auch. Henry war vielleicht von alleine zu dieser Überzeugung gekommen, oder er war dazu gekommen, weil er ihre Mutter so häufig mit Eddie sprechen hörte, wieviel sie und Henry für ihn geopfert hatten, damit Eddie in diesem Dschungel von einer Stadt so sicher wie nur irgend jemand sein konnte, damit er glücklich sein konnte, so glücklich jemand in diesem Dschungel von einer Stadt nur sein konnte, damit er nicht dasselbe Schicksal erlitt wie seine arme Schwester, an die er sich kaum noch erinnern konnte, aber sie war so wunderschön gewesen, Gott schütze sie. Sie war bei den Engeln, und das war zweifellos ein wunderbarer Aufenthaltsort, aber sie wollte noch nicht, daß Eddie auch zu den Engeln ging, daß er auf der Straße von einem verrückten betrunkenen Fahrer überfahren wurde, wie seine Schwester, oder daß er von einem wahnsinnigen Junkie wegen der fünfundzwanzig Cents in seiner Tasche aufgeschlitzt wurde und seine Eingeweide auf dem Gehweg lagen, und weil sie glaubte, daß Eddie auch nicht bei den Engeln sein wollte, sollte er besser darauf hören, was ihm sein großer Bruder sagte und tun, was ihm sein großer Bruder sagte, und niemals vergessen, daß Henry ein Opfer aus Liebe brachte.
Eddie sagte dem Revolvermann, er bezweifelte, daß seine Mutter vieles von dem wußte, was sie getan hatten – im Süßwarenladen in der Rincon Avenue Comics gestohlen, hinter der Bonded Electroplate Factory in der Cohoes Street geraucht.
Einmal hatten sie einen Chevrolet mit steckendem Schlüssel gesehen, und obwohl Henry kaum gewußt hatte, wie man fährt – er war sechzehn gewesen, Eddie acht –, hatte er seinen Bruder hineingedrängt und gesagt, sie würden nach New York City fahren. Eddie hatte Angst gehabt und geweint, Henry hatte auch Angst gehabt und war wütend auf Eddie gewesen, hatte ihm gesagt, er solle still sein, er solle aufhören, so ein verdammtes Baby zu sein, er hatte zehn Piepen und Eddie drei oder vier, sie konnten den ganzen verdammten Tag ins Kino gehen, mit dem Bus von Pelham zurückfahren und wieder zu Hause sein, bevor ihre Mutter Zeit gehabt hatte, das Essen auf den Tisch zu stellen und sich zu fragen, wo sie steckten. Aber Eddie weinte weiter, und in der Nähe der Queensboro Bridge sahen sie ein Polizeiauto in einer Seitenstraße, und obwohl Eddie ziemlich sicher war, daß der Polizist darin nicht einmal in ihre Richtung gesehen hatte, sagte er Ja, als Henry ihn mit schroffer, zitternder Stimme fragte, ob Eddie meinte, der Bulle hätte sie gesehen. Eddie wurde weiß und fuhr so unvermittelt an den Straßenrand, daß er beinahe einen Hydranten amputiert hätte. Er rannte den Block hinunter, während Eddie, mittlerweile selbst in Panik, sich immer noch mit dem unvertrauten Türgriff abmühte. Henry blieb stehen, kam zurück und zerrte Eddie aus dem Auto. Außerdem schlug er ihn zweimal. Dann waren sie den ganzen Weg nach Brooklyn zurückgegangen – besser gesagt, geschlichen. Sie hatten fast den ganzen Tag dazu gebraucht, und als ihre Mutter sie gefragt hatte, warum sie so heiß und müde aus sahen, hatte Henry gesagt, weil sie den ganzen Tag damit verbracht hatten, Eddie auf dem Basketballfeld des Spielplatzes am nächsten Block Unterricht zu erteilen. Dann waren größere Kinder gekommen und sie hatten weglaufen müssen. Ihre Mutter küßte Henry und strahlte Eddie an. Sie fragte ihn, ob er nicht den besten großen Bruder auf der ganzen Welt hatte. Eddie stimmte ihr zu. Und es war eine ehrliche Zustimmung. Er
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