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Der dunkle Turm - Gesamtausgabe

Der dunkle Turm - Gesamtausgabe

Titel: Der dunkle Turm - Gesamtausgabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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introspektiver als Roland gewesen wäre, hätte sich vielleicht gefragt (sich selbst, wenn nicht direkt laut): Warum dieser? Warum dieser Mann als erster? Warum ein Mann, der Schwäche oder Seltsamkeit oder regelrechten Untergang zu versprechen scheint?
    Der Revolvermann stellte diese Frage nicht nur nie; sie formulierte sich überhaupt nie in seinem Denken. Cuthbert würde gefragt haben; Cuthbert hatte immer und alles gefragt, Cuthbert war von Fragen vergiftet gewesen, war mit einer auf den Lippen gestorben. Jetzt waren sie dahin, allesamt dahin. Corts letzte Revolvermänner, die dreizehn Überlebenden einer Anfängerklasse, die sechsundfünfzig gezählt hatte, waren alle tot. Alle tot, außer Roland. Er war der letzte Revolvermann, der in einer Welt, die schal und steril und leer geworden war, unablässig weitermachte.
    Dreizehn, erinnerte er sich, hatte Cort am Tag vor der Einweihungszeremonie gesagt. Das ist eine böse Zahl. Und am nächsten Tag war Cort zum erstenmal seit dreißig Jahren nicht bei den Feierlichkeiten dabeigewesen. Seine letzten Schüler waren zu seiner Hütte gegangen, um vor ihm niederzuknien und ihm die schutzlosen Hälse darzubieten und dann aufzustehen und den beglückwünschenden Kuß entgegenzunehmen und ihm zu gestatten, ihre Waffen das erstemal eigenhändig zu laden. Neun Wochen später war Cort tot gewesen. Gift, sagten manche. Zwei Jahre nach seinem Tod hatte der letzte blutige Bürgerkrieg angefangen. Das rote Gemetzel hatte die letzte Bastion von Zivilisation, Licht und Vernunft erreicht und alles, was sie für stark gehalten hatten, mit der Beiläufigkeit einer Welle fortgespült, die die Sandburg eines Kindes vernichtet.
    Er war der letzte, und vielleicht hatte er überlebt, weil die dunkle Romantik in seiner Natur von seinem praktischen Wesen und seiner Schlichtheit übertroffen wurde. Ihm war klar, daß nur drei Dinge zählten: Sterblichkeit, Ka und der Turm.
    Es war ausreichend, darüber nachzudenken.
    Gegen vier Uhr am dritten Tag ihrer Reise nach Norden den konturlosen Strand entlang beendete Eddie seine Geschichte. Das Ufer selbst schien sich nie zu verändern. Wollte man sich vergewissern, daß man überhaupt voran kam, konnte man nur nach links sehen, nach Osten. Dort waren die scharfen Klüfte der Berge weicher und versunkener geworden. Wenn sie weit genug nach Norden gingen, würden die Berge vielleicht zu flachen Hügeln werden.
    Nachdem er seine Geschichte erzählt hatte, verfiel Eddie in Schweigen, und sie gingen eine halbe Stunde oder länger, ohne zu sprechen, weiter. Eddie warf ihm verstohlene Blicke zu. Roland wußte, Eddie merkte nicht, daß er diese Blicke mitbekam; er war zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Roland wußte auch, worauf Eddie wartete: eine Antwort. Irgendeine Art Antwort. Irgendeine Antwort. Zweimal machte Eddie den Mund auf, um ihn wieder zuzumachen. Schließlich stellte er die Frage, die der Revolvermann erwartet hatte.
    »Und? Was meinst du?«
    »Ich denke, du bist hier.«
    Eddie blieb stehen und drückte die geballten Fäuste gegen die Hüften. »Das ist alles? Mehr nicht?«
    »Mehr weiß ich nicht«, antwortete der Revolvermann. Die fehlenden Finger und Zehen pulsierten und juckten. Er wünschte sich etwas von dem Astin aus Eddies Welt.
    »Hast du eine Meinung, was das alles, zum Teufel, zu bedeuten hat?«
    Der Revolvermann hätte seine verstümmelte rechte Hand heben und sagen können: Denk doch selbst darüber nach, was es bedeutet, du dummer Idiot! Aber das zu sagen, kam ihm ebensowenig in den Sinn wie zu fragen, warum es in allen Universen, die existieren mochten, ausgerechnet Eddie sein mußte. »Das ist Ka«, sagte er und sah Eddie geduldig an.
    »Was ist Ka?« Eddies Stimme war trotzig. »Davon habe ich noch nie gehört. Nur wenn du es zweimal hintereinander sagst, ist es das Babywort für Scheiße.«
    »Davon weiß ich nichts«, sagte der Revolvermann. »Hier bedeutet es Pflicht oder Schicksal oder, umgangssprachlich, einen Ort, zu dem man gehen muß.«
    Es gelang Eddie, mißfällig, angewidert und amüsiert zugleich auszusehen. »Dann sag es zweimal, Roland, denn Worte wie dieses hören sich für diesen Jungen hier wie Scheiße an.«
    Der Revolvermann zuckte die Achseln. »Ich unterhalte mich nicht über Philosophie. Ich studiere die Geschichte nicht. Ich weiß nur, die Vergangenheit ist Vergangenheit, und was vor uns liegt das liegt vor uns. Das zweite ist Ka, und das kümmert sich um sich selbst.«
    »Ja?« Eddie sah nach Norden.

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