Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
flankierten? Die Erinnerung schmerzte, und es war kein lediglich emotionaler Schmerz, sondern sein Magen verkrampfte sich buchstäblich, und sein Herz begann zu jagen. Die drei auf dem Bild lachten gerade über etwas, und das Ergebnis war eine Art zeitloser Perfektion, einer jener Augenblicke, in dem Männer genießen, was und wo sie gerade sind.
»Die Gründerväter«, sagte Nancy. Es klang belustigt und traurig zugleich. »Dieses Foto ist 1986 auf einer exklusiven Ferienranch gemacht worden. Taos, New Mexico. Drei Stadtjungen bei den Cowboys, zum Schießen! Und sehen sie nicht aus, als amüsierten sie sich königlich?«
»Ihr sprecht wahrhaftig«, sagte Roland.
»Sie kennen alle drei?«
Roland nickte. Er kannte sie allerdings, auch wenn er Moses Carver, dem Mann in der Mitte, nie persönlich begegnet war. Dan Holmes’ Partner, Odetta Holmes’ Taufpate. Auf dem Bild schien er ein kräftiger, gesunder Siebziger zu sein, dabei musste er 1986 bereits eher achtzig gewesen sein. Möglicherweise sogar fünfundachtzig. Natürlich, sagte Roland sich jetzt, durfte man hier nie die Rechnung ohne den Joker machen: das Wunder, das er vorhin in der Eingangshalle dieses Gebäudes gesehen hatte. Die Rose war zwar so wenig ein Jungbrunnen, wie die Schildkröte in jenem winzigen Park auf der anderen Straßenseite die echte Maturin war, aber möglicherweise besaß sie ja bestimmte wohltuende Eigenschaften? Ja, das glaubte er. Bestimmte heilende Eigenschaften? Ja, auch das. Und glaubte er, dass Aaron Deepneau die neun Lebensjahre, die ihm zwischen 1977 und dieser Szene im Jahr 1986 geschenkt worden waren, einzig den die Prim ersetzenden Tabletten und medizinischen Behandlungsmethoden des Alten Volkes verdankte? Nein, das glaubte er nicht. Diese drei Männer – Carver, Cullum und Deepneau –, hatten sich auf fast magische Weise vereint, um noch in ihrem hohen Alter für die Rose zu kämpfen. Ihre Geschichte, so glaubte der Revolvermann, hätte ein eigenes Buch ergeben, bestimmt sogar ein sehr gutes und spannendes. Was Roland glaubte, war die Einfachheit selbst: Die Rose hatte ihre Dankbarkeit bewiesen.
»Wann sind sie gestorben?«, fragte er Nancy Deepneau.
»John Cullum war der Erste«, sagte sie. »Er ist 1989 an einer Schussverletzung gestorben. Aber er hat im Krankenhaus noch zwölf Stunden durchgehalten – lange genug, damit alle sich von ihm verabschieden konnten. Er war in New York, um an der Jahressitzung des Verwaltungsrats teilzunehmen. Nach Ansicht der hiesigen Polizei war er das Opfer eines irgendwie schief gegangenen Straßenraubs. Wir hingegen glauben, dass er von einem Handlanger entweder der Sombra oder der North Central Positronics ermordet wurde. Vermutlich von einem Can-Toi. Es hat zwar auch schon früher Attentate gegeben, aber die waren alle fehlgeschlagen.«
»Die Sombra und die Positronics sind praktisch das Gleiche«, sagte Roland. »Beide sind ein Werkzeug des Scharlachroten Königs in dieser Welt.«
»Das wissen wir«, sagte sie und zeigte dann auf den Mann links außen, dem sie so ähnlich sah. »Onkel Aaron hat bis 1992 gelebt. Als Sie ihm begegnet sind … war das 1977 gewesen?«
»Ja«, sagte Roland.
»Also, im Jahr 1977 hätte kein Mensch geglaubt, dass er noch so lange leben würde.«
»Waren es auch die Fayen- Folken, die ihn ermordet haben?«
»Nein, der Krebs hat sich zurückgemeldet, das war alles. Aaron ist friedlich im Bett gestorben. Ich war bis zuletzt bei ihm. Seine letzten Worte waren: ›Sag Roland, dass wir unser Bestes getan haben.‹ Und so sage ich’s Ihnen jetzt.«
»Danke-sai.« Er hörte die Rauheit in seiner Stimme und hoffte, dass die junge Frau sie nicht als Barschheit missverstehen würde. Viele hatten ihr Bestes für ihn getan, nicht wahr? Sogar sehr viele, angefangen mit Susan Delgado vor langen, langen Jahren.
»Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte sie mit leiser, mitfühlender Stimme.
»Ja«, sagte er. »Mir geht’s gut. Und Moses Carver? Wann ist er gestorben?«
Sie zog die Augenbrauen hoch, dann lachte sie.
»Was …?«
»Da, sehen Sie selbst!«
Sie deutete auf die Glastür. Von innen kam jetzt ein runzeliger Mann mit weißem Flauschhaar und dazu passenden weißen Augenbrauen auf sie zu, der eben an der Sekretärin vorbeikam, die am Schreibtisch Selbstgespräche geführt zu haben schien. Seine Haut war dunkel, aber die der Frau, auf deren Arm er sich stützte, war noch dunkler. Er war groß – ungefähr eins neunzig, wenn er das Rückgrat hätte
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