Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
die Stadt Lud, wie sie zu ihrer Blütezeit ausgesehen haben musste.
»Das ist New York?«, sagte er. »So nennt ihr die Stadt, richtig?«
»Ja«, sagte Nancy Deepneau.
»Und die hängende Brücke dort drüben?«
»Die George Washington Bridge«, sagte Marian Carver. »Für die Einheimischen einfach die GWB.«
Dort drüben lag also nicht nur die Brücke, auf der sie nach Lud gelangt waren, sondern daneben auch die Fußgängerbrücke, auf der Pere Callahan damals New York verlassen hatte, um seine Wanderschaft anzutreten. An dieses Detail aus dessen Erzählung konnte Roland sich sehr wohl erinnern.
»Darf ich Ihnen eine Erfrischung anbieten?«, fragte Nancy.
Er wollte schon dankend ablehnen, merkte dann aber, wie ihm der Kopf schwamm, worauf er seine Meinung änderte. Eine Erfrischung, ja, aber nur etwas, was den Geist schärfte, weil dieser scharf bleiben musste. »Tee, wenn ihr welchen habt«, sagte er. »Heißen, starken Tee mit Zucker oder Honig. Geht das?«
»Das geht«, sagte Marian und drückte eine Taste des Geräts auf ihrem Schreibtisch. Sie sprach mit jemandem, den Roland nicht sehen konnte, und auf einmal kam ihm auch die Frau im Vorzimmer, die scheinbar Selbstgespräche geführt hatte, weniger unvernünftig vor.
Nachdem Marian heiße Getränke und Sandwiches (die Roland für sich wohl immer als Popkins bezeichnen würde) bestellt hatte, beugte sie sich nach vorn und lenkte Rolands Blick auf sich. »Unsere Begegnung in New York ist eine glückliche, Roland, so hoffe ich doch, aber dein Besuch hier ist nicht … ist nicht entscheidend wichtig. Und ich vermute, du weißt auch, warum.«
Der Revolvermann dachte darüber nach, dann nickte er. Ein wenig zurückhaltend, aber im Lauf der Jahre hatte er sich eine gewisse Vorsicht angewöhnt. Es gab andere – Alain Johns war einer davon gewesen, Jamie DeCurry ein weiterer –, die von Natur aus vorsichtig waren, aber bei Roland, der schon immer dazu geneigt hatte, erst zu schießen und dann Fragen zu stellen, war das nie der Fall gewesen.
»Nancy hat dich aufgefordert, die Plakette im Garten des Balkens zu lesen«, sagte Marian. »Hast du …«
»Garten des Balkens, sagt Gott!«, warf Moses Carver ein. Auf dem Weg ins Büro seiner Tochter hatte er aus einem Ständer in Form eines nachgeahmten Elefantenfußes einen Krückstock gezogen, mit dem er jetzt auf den luxuriösen Teppichboden stieß, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Marian nahm die Unterbrechung geduldig hin. »Sagt Gott-Bombe!«
»Die seit kurzem bestehende Freundschaft meines Vaters mit Reverend Harrigan, der unten vor dem Eingang Hof hält, ist kein Höhepunkt meines Lebens«, sagte Marian seufzend, »aber lassen wir das jetzt. Also, hast du die Plakette gelesen, Roland?«
Er nickte. Nancy Deepneau hatte dafür ein anderes Wort – Schild oder Sigul – gebraucht, aber er verstand, dass beide das Gleiche bezeichneten. »Das Geschriebene hat sich in Große Buchstaben verwandelt. Ich konnte sie sehr wohl lesen.«
»Und was steht darauf?«
»GESTIFTET VON DER TET CORPORATION ZUR ERINNERUNG AN EDWARD CANTOR DEAN UND JOHN ›JAKE‹ CHAMBERS.« Er machte eine Pause. »Darunter steht: ›Cam-a-cam-mal, Pria-toi, Gan delah‹, was man mit WEISS ÜBER ROT, SO WILL GOTT ES EWIGLICH übersetzen könnte.«
»Und für uns bedeutet es: GUT ÜBER BÖSE, DAS IST DER WILLE GOTTES«, sagte Marian.
»Lobet den Herrn!«, sagte Moses Carver und stieß mit seinem Krückstock auf den Teppichboden. »Auf dass die Prim sich erhebe!«
Dann wurde pflichtschuldigst angeklopft, und die Vorzimmerfrau kam mit einem Silbertablett herein. Roland stellte fasziniert fest, dass vor ihren Lippen ein kleiner schwarzer Knopf hing, dessen schmaler schwarzer Bügel in ihrem Haar verschwand. Bestimmt irgendeine Art Fernsprechgerät. Nancy Deepneau und Marian Carver halfen ihr dabei, dampfenden Tee und Kaffee, Schalen mit Zucker und Honig und ein Sahnetöpfchen aufzudecken. Auf dem Tablett stand auch ein Teller mit Sandwiches, bei dessen Anblick Roland der Magen knurrte. Er musste unwillkürlich an seine Freunde unter der Erde denken – für sie gab es keine Popkins mehr –, aber auch an Irene Tassenbaum, die in dem kleinen Park auf der gegenüberliegenden Straßenseite saß und geduldig auf ihn wartete. Beide Gedanken hätten ihm eigentlich den Appetit verderben müssen, aber sein Magen machte sich erneut unverschämt bemerkbar. Manche Teile des Menschen besaßen kein Gewissen – das war eine Tatsache, die ihm
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