Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
Dort erwartet Sie jemand, der mit Ihnen …« Sie wirkte einen Augenblick lang verlegen, so als hätte sie den Verdacht, dass jemand sie angewiesen hatte, ein bestimmtes Wort zu benutzen, damit sie ausgelacht werden würde. Dann bildeten sich Grübchen in ihren Wangen, und ihre grünen Augen blitzten bezaubernd, als dächte sie: Wenn sich jemand über mich lustig machen will, soll er in Gottes Namen doch. »… jemand, der mit Ihnen palavern möchte«, schloss sie.
»Nun denn«, sagte er.
Sie berührte ihn leicht an der Schulter, als wollte sie ihn noch kurz in der Eingangshalle festhalten. »Ich soll dafür sorgen, dass Sie zuerst das Schild im Garten des Balkens lesen«, erklärte sie ihm. »Wollen Sie das bitte tun?«
Rolands Antwort klang trocken, aber trotzdem leicht entschuldigend. »Ich will’s gern versuchen«, sagte er, »aber ich habe immer Probleme mit eurer Schriftsprache, obwohl ich mich mündlich ganz gut verständigen kann, wenn ich hier drüben bin.«
»Ich glaube, Sie werden den Text lesen können«, antwortete sie. »Versuchen Sie’s nur.« Und abermals berührte sie seine Schulter, drehte ihn sanft zu dem quadratischen Beet mitten in der Eingangshalle um – mit seiner dunklen Erde, die nicht Gärtner mit Schubkarren hereingefahren hatten, sondern die tatsächlich der Boden war, aus dem die Rose ursprünglich gewachsen war. Die Erde war vermutlich abgerecht, aber sonst nicht verändert worden.
Anfangs hatte er mit der kleinen Messingtafel im Garten so wenig Erfolg wie mit den meisten Schildern in Schaufenstern oder Wörtern auf »Magda-Ziehn«-Titeln. Er wollte schon aufgeben, wollte die junge Frau, deren Gesicht ihm entfernt bekannt vorkam, doch bitten, ihm den Text vorzulesen, als die Buchstaben sich auf einmal veränderten und zu den Großen Buchstaben Gileads wurden. Nun konnte er mühelos lesen, was dort stand. Sobald er fertig war, nahmen die Buchstaben wieder ihre vorige Gestalt an.
»Ein hübsches Kunststück«, sagte er. »Hat das Geschriebene auf meine Gedanken reagiert?«
Sie lächelte – ihre Lippen waren mit einer Masse überzogen, die ihn an rosa Zuckerguss erinnerte – und nickte. »Ja. Wären Sie Jude, hätten Sie ihn auf Hebräisch gesehen. Wären Sie Russe, hätte er kyrillisch dagestanden.«
»Sprecht Ihr wahrhaftig?«
»Wahrhaftig.«
In der Eingangshalle herrschte wieder der normale Rhythmus … nur begriff Roland, dass der Rhythmus dieses Gebäudes nie dem anderer Bürogebäude gleichen würde. Die in Donnerschlag Lebenden würden ihr Leben lang an kleinen Unpässlichkeiten wie Pickeln und Ekzemen und Kopfschmerzen und Triefaugen leiden und zuletzt (in den meisten Fällen ziemlich früh) an einer schlimmen, schmerzhaften Krankheit sterben – meistens an Krebs, der den Körper rasch auszehrte und die Nerven wie Buschfeuer abbrannte. Hier fand sich genau das Gegenteil: Gesundheit und Harmonie, Freundschaft und Freigebigkeit. Diese Folken hörten die Rose eigentlich nicht in Wirklichkeit singen, aber das war auch nicht nötig. Sie waren die Glücklichen, und das wussten sie auf irgendeiner Ebene auch … was das größte Glück war. Er beobachtete, wie sie hereinkamen und zu den Hebekästen gingen, die sie »Lifte« nannten, wie sie ihre Aktentaschen und Aktenkoffer, ihre Geräte und ihre Gunna schwangen, wobei sich nicht ein Einziger auf dem kürzesten Weg zwischen Eingang und Aufzug bewegte. Einige wenige kamen vorbei, um sich den Garten des Balkens, wie die Frau ihn genannt hatte, aus der Nähe anzusehen, aber selbst die anderen, die das nicht taten, beschrieben einen kleinen Bogen in seine Richtung, so als würden sie im Vorbeigehen von ihm wie von einem starken Magneten angezogen. Und wenn jemand versucht hätte, der Rose Schaden zuzufügen? Bei den Aufzügen sah Roland auf einem Hocker zwar einen Wachmann sitzen, aber der war dick und alt. Was allerdings keine Rolle spielte. Hätte jemand sich ihr in bedrohlicher Absicht genähert, hätten alle in der Eingangshalle Anwesenden im Kopf ein schrilles Alarmsignal gehört – durchdringend und gebieterisch wie eine Ultraschallpfeife, die nur von Hunden wahrgenommen werden konnte. Und sie hätten sich auf jeden gestürzt, der den Eindruck erweckt hätte, der Rose schaden zu wollen. Das hätten sie blitzschnell und ohne Rücksicht auf die eigene Unversehrtheit getan. Die Rose hatte es bereits verstanden, sich selbst zu schützen (oder wenigstens Leute anzulocken, die sie schützen konnten), als sie noch zwischen
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