Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
vergängliche Schönheit des Tages, der ihnen geschenkt worden war, ignorieren, hier drinnen konnten sie jedoch nicht umhin, wenigstens einen Teil dessen zu spüren, wofür der Revolvermann so einzigartig empfindlich war, um es dann wie Wasser in der Wüste zu trinken.
Er schlenderte wie im Traum langsam über den rosa Marmorboden und hörte das hallende Klicken seiner Stiefelabsätze und das leise Klappern der sich in der Umhängetasche bewegenden Orizas. Er dachte: Leute, die hier arbeiten, wünschen sich, hier leben zu können. Sie sind sich dessen vielleicht nicht genau bewusst, aber sie tun es. Leute, die hier arbeiten, erfinden Gründe, um länger im Büro bleiben zu dürfen. Und sie führen ein langes und ertragreiches Leben.
In der Mitte des hohen, hallenden Raums machte der luxuriöse Marmorboden einem Quadrat aus bescheidener dunkler Erde Platz. Es war durch burgunderrote Samtseile an messingfarbenen Ständern abgetrennt, aber Roland wusste, dass die Absperrung eigentlich überflüssig war. Diesen kleinen Garten hätte niemand betreten, nicht mal ein selbstmörderisch veranlagter Can-Toi, der sich einen Namen machen wollte. Dies war heiliger Boden. Hier wuchsen drei Zwergpalmen und Pflanzen, die er nicht mehr gesehen hatte, seit er Gilead verlassen hatte: Spathiphilium, so hatten sie seiner Erinnerung nach dort geheißen, während sie hier natürlich anders heißen konnten. Es gab noch weitere Pflanzen – aber nur eine, auf die es wirklich ankam.
In der Mitte des Quadrats stand für sich allein die Rose.
Sie war nicht umgepflanzt worden; das erkannte Roland sofort. Nein, sie war noch genau dort, wo sie bereits 1977 gestanden hatte, als an dieser Stelle ein unbebautes Grundstück voller Abfall und Bauschutt gelegen hatte, auf dem eine Werbetafel verkündete, in Zusammenarbeit mit dem Maklerbüro Sombra errichte die Baufirma Mills hier demnächst die Turtle-Bay-Luxuseigentumswohnungen. Stattdessen war dieses Bürogebäude mitsamt seinen hundert Stockwerken um die Rose herum gebaut worden. Wozu es sonst noch dienen mochte, war im Vergleich zu diesem Zweck zweitrangig.
Das Gebäude Hammarskjöld Plaza Nr. 2 war ein Schrein.
6
Jemand tippte Roland leicht auf die Schulter, worauf er so plötzlich herumfuhr, dass er besorgte Blicke auf sich zog. Er war selbst besorgt. Seit vielen, vielen Jahren – vielleicht seit er dreizehn oder vierzehn gewesen war – hatte sich niemand mehr unbemerkt an ihn anschleichen können, um ihn auf die Schulter zu tippen. Und auf diesem Marmorboden hätte er doch hören müssen, dass …
Obwohl die junge (und bildschöne) Frau, die sich ihm genähert hatte, von seiner jähen Reaktion sichtlich überrascht war, trafen seine Hände, die nach vorn schossen, um sich auf ihre Schultern zu legen, nur auf leere Luft und danach mit sanftem Klatschen – das von der hohen Decke widerhallte, die mindestens so hoch war wie die von der Wiege von Lud – auf sich selbst. Die grünen Augen der Frau waren groß und hellwach, und er hätte geschworen, dass aus ihnen keine böse Absicht sprach, aber dass er erst so überrascht worden war und sie dann verfehlt hatte …
Er sah auf die Füße der jungen Frau hinunter und erhielt dadurch zumindest eine Teilantwort. Sie trug Schuhe, wie er noch nie welche gesehen hatte: Leinenschuhe mit dicken Kreppsohlen. Damit konnte man sich auf harten Böden so lautlos wie mit den weichsten Mokassins bewegen.
Während er sie betrachtete, empfand er eine seltsame doppelte Gewissheit: erstens, dass er »das Schiff, auf dem sie angekommen ist« gesehen hatte, wie eine Familienähnlichkeit in Calla Bryn Sturgis manchmal beschrieben wurde, und zweitens, dass es auch auf dieser Welt, dieser speziellen Fundamentalen Welt, eine Gesellschaft von Revolvermännern gab und eben eines ihrer Mitglieder an ihn herangetreten war.
Und wo hätte diese Begegnung besser stattfinden können als in Sichtweite der Rose?
»Ich sehe Euren Vater in Eurem Gesicht, aber mir will nicht recht der Name einfallen«, sagte Roland halblaut. »Sagt mir, wer er war, wenn’s beliebt.«
Die Frau lächelte, worauf Roland beinahe auf den Namen kam, den er suchte. Dann entschwand er aber wieder, wie solche Dinge es oft taten: Erinnerungen konnten scheu sein. »Sie sind ihm nie begegnet … obwohl ich verstehe, weshalb Sie glauben, ihn gekannt zu haben. Meinen Namen sage ich Ihnen später, wenn Sie wollen, aber jetzt soll ich Sie zunächst einmal nach oben begleiten, Mr. Deschain.
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