Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
Müll und Unkraut auf dem unbebauten Grundstück gestanden hatte, und daran hatte sich nichts geändert.
»Mr. Deschain? Sollen wir jetzt hinauffahren?«
»Aye«, sagte er. »Geht Ihr voraus, wenn’s recht ist.«
7
Was ihm am Gesicht der jungen Frau vertraut erschien, wurde ihm schließlich klar, als sie eben den »Lift« erreichten. Wahrscheinlich lag es daran, dass er sie nun im Profil sah, was die Ähnlichkeit des Gesichtsschnitts noch mehr betonte. Er erinnerte sich daran, wie Eddie ihm von dem Gespräch berichtet hatte, das er mit Calvin Tower geführt hatte, nachdem Jack Andolini und George Biondi das Manhattaner Restaurant für geistige Nahrung fluchtartig verlassen hatten. Tower hatte von der Familie seines ältesten Freundes gesprochen. Sie brüsten sich gern damit, den originellsten Anwaltsbriefkopf in ganz New York, vielleicht sogar in ganz Amerika zu haben. Auf dem steht einfach nur »DEEPNEAU«.
»Ihr seid Sai Aaron Deepneaus Tochter?«, fragte er sie. »Nein, wahrscheinlich nicht, dazu seid Ihr zu jung. Seine Enkelin?«
Ihr Lächeln verblasste. »Aaron hatte keine Kinder, Mr. Deschain. Ich bin lediglich die Enkelin seines jüngsten Bruders, aber meine Eltern sind früh gestorben. So bin ich eigentlich bei Airy aufgewachsen.«
»So habt Ihr ihn genannt? Airy?« Roland war bezaubert.
»Diesen Kosenamen habe ich ihm als Kind gegeben, und er hat sich irgendwie gehalten.« Sie streckte ihm die Hand hin, lächelte nun auch wieder. »Nancy Deepneau. Freut mich sehr, Sie kennen zu lernen. Ich bin ein bisschen ängstlich, aber dennoch sehr erfreut.«
Roland schüttelte ihr die Hand, aber das war nur eine Geste, kaum mehr als eine flüchtige Berührung. Mit weit mehr Gefühl (war das doch das Ritual, mit dem er aufgewachsen war, das er verstand) legte er dann die Faust an die Stirn und verbeugte sich. »Lange Tage und angenehme Nächte, Nancy Deepneau.«
Ihr Lächeln wurde zu einem fröhlichen Grinsen. »Und mögen Sie Euch doppelt vergönnt sein, Roland von Gilead! Mögen sie Euch doppelt vergönnt sein!«
Der »Lift« kam. Sie stiegen ein und fuhren anschließend in den neunundneunzigsten Stock hinauf.
8
Als die Kabinentür zur Seite glitt, lag vor ihnen ein großes rundes Foyer. Das dunkle Pink des Teppichbodens entsprach genau dem Farbton der Rose. Geradeaus vor ihnen befand sich eine Glastür, auf der in Goldbuchstaben TET CORPORATION stand. Dahinter sah Roland einen kleineren Empfangsbereich, wo eine Frau an einem Schreibtisch saß und Selbstgespräche zu führen schien. Rechts vor der Glastür standen zwei Männer in Geschäftsanzügen. Beide hatten sie eine Hand in der Hosentasche und schienen ganz leger zu plaudern, aber Roland sah, dass sie keineswegs entspannt waren. Und sie waren bewaffnet. Ihre Sakkos waren gut geschnitten, aber wer sich mit Waffen auskannte, sah sofort eine, wo eine vorhanden war. Diese beiden Kerle würden eine, vielleicht zwei Stunden lang im Foyer stehen (selbst gute Leute konnten nicht sehr viel länger wachsam bleiben) und bei jedem Öffnen der Kabinentür so tun, als plauderten sie nur miteinander, während sie in Wirklichkeit darauf vorbereitet waren, beim geringsten Verdacht einzugreifen. Mit diesen Sicherheitsmaßnahmen war Roland sehr einverstanden.
Er hielt sich jedoch nicht lange damit auf, die Wachmänner zu beobachten. Sobald er sie als solche bestimmt und eingeordnet hatte, wandte er sich dem zu, was ihn sofort fasziniert hatte, kaum dass die Kabinentür aufgegangen war. An der Wand links von ihm hing ein großes Schwarz-Weiß-Bild: eine ungefähr eineinhalb Meter breite und einen Meter hohe ungerahmte Fotografie (er hatte ursprünglich geglaubt, das Wort heiße Fottergrafie), die so geschickt in die Wand eingepasst war, dass sie einem Fenster glich, das in eine unnatürlich stille Realität hinausblickte. Drei Männer in Jeans und mit offenem Hemd saßen auf der obersten Querstange eines Zauns, wo sie die Stiefelabsätze hinter die unterste Stange gehakt hatten. Wie viele Male, fragte Roland sich, hatte er Cowboys oder pastorillas so auf Zäunen sitzen sehen, während sie das Einfangen, Brandmarken, Kastrieren oder Zureiten von wilden Pferden beobachteten? Wie viele Male hatte er selbst so dagesessen, ob mit einem oder mehreren aus seinem alten Tet – Cuthbert, Alain, Jamie DeCurry – neben sich, so wie jetzt hier John Cullum und Aaron Deepneau einen Schwarzen mit goldgeränderter Brille und schmalem weißem Schnurrbart
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