Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
reichte ihm die improvisierte Fackel, die inzwischen bereits schwächer brannte, wobei die über den Edelstahlstab laufenden gelben Flammen bläulich wurden. Das Lebewesen brüllte wieder ohrenbetäubend laut, und jetzt konnte Susannah auch dessen wogende Umrisse wieder erkennen. Weil das Licht schwächer wurde, kam es wieder angekrochen.
Wenn der Boden hier nass ist, sind wir höchstwahrscheinlich erledigt, dachte sie, aber während sie in dem Skeletthaufen nach einem Oberschenkelknochen tastete, stellte sie mit den Fingerspitzen fest, dass er trocken war. Möglicherweise war das nur eine Falschmeldung ihrer hoffnungsvollen Sinne – schließlich konnte sie irgendwo in der Nähe Wasser von der Decke tropfen hören –, aber das glaubte sie eigentlich nicht.
Sie holte die nächste Sterno-Büchse aus dem Lederbeutel, bekam aber beim ersten Versuch den Verschluss nicht auf. Das Wesen rückte stetig näher, und jetzt konnte sie unter dessen klumpenförmigem erhobenem Kopf auch jede Menge kurzer, missgestalteter Beine sehen. Also doch kein Wurm, sondern irgendein riesiger Tausendfüßler. Oy baute sich vor ihr auf, kläffe weiter und fletschte zwischendurch sämtliche Zähne. Oy würde als Erster gefressen werden, wenn sie es nicht bald schaffte, diese Dose zu …
Schließlich glitt ihr Finger in den Ring, der beinahe flach auf dem Deckel lag. Sie hörte ein leises Knacken und Zischen. Roland schwenkte die Stablampe, um die Flammen noch einmal anzufachen (was hätte funktionieren können, hätte es dort noch Nahrung für sie gegeben), und Susannah sah ihre undeutlicher werdenden Schatten wie wahnsinnig über die lückenhaften Kachelwände tanzen.
Der Knochen, den sie geangelt hatte, war zu dick, um in die Sterno-Büchse zu passen. Unbeholfen auf Rolands Rücken liegend, halb in ihrem Tragegeschirr, halb herausgerutscht, steckte sie vier Finger in die Dose und bestrich das vordere Ende des Knochens mit dem geleeartigen Brennstoff. War der Knochen feucht, würden sie so nur wenige schreckliche Sekunden gewinnen. War er jedoch trocken, konnten sie vielleicht … ganz vielleicht …
Das Lebewesen kam unaufhaltsam näher. Zwischen den aus seinem Maul züngelnden Tentakeln konnte sie spitze Reißzähne sehen. Im nächsten Augenblick würde es nahe genug heran sein, um sich Oy zu schnappen, wie ein Gecko eine Fliege aus der Luft schnappte. Der Gestank nach verwestem Fisch war ekelerregend stark. Und was mochte sich dahinter drängen? Welche weiteren Abscheulichkeiten?
Es war nicht an der Zeit, jetzt darüber nachzudenken.
Sie hielt ihre Knochenfackel an die erlöschenden Flammen, die noch den Stab der Lampe einhüllten. Die neue Flamme war heller, als sie erwartet hatte – viel heller –, und der Aufschrei des Lebewesens klang diesmal nicht nur überrascht, sondern auch gepeinigt. Mit einem widerwärtig schmatzenden Geräusch, als würde man Schlamm in einem Plastikregenmantel zusammenquetschen, wich es zurück.
»Gib mir noch mehr Knochen«, sagte sie, als Roland die Stablampe wegwarf. »Und pass auf, dass es knochentrockne sind.« Sie lachte über ihren Kalauer (weil es sonst niemand tun wollte), ein kaputtes, schmutziges Detta-Gackern.
Roland, der noch immer keuchend nach Atem rang, tat wie geheißen.
13
Als sie ihren Weg durch den Korridor fortsetzten, saß Susannah rücklings in dem Tragegeschirr, was eine schwierige, aber nicht unmögliche Position war. Falls sie hier herauskamen, würde ihr der Rücken ein, zwei Tage lang verdammt wehtun. Und ich werde jedes einzelne Pochen davon genießen, nahm sie sich vor. Roland hatte das T-Shirt mit dem Old-Home-Days-Aufdruck, das Irene Tassenbaum ihm gekauft hatte, mit dabei. Er reichte es Susannah nach hinten, worauf sie es um das eine Ende des Knochens wickelte und ihn dann möglichst weit ausgestreckt hielt, während sie gleichzeitig darauf achtete, das Gleichgewicht zu bewahren. Rennen durfte Roland nicht mehr – dabei wäre sie bestimmt aus dem Tragegeschirr gepurzelt –, aber er schlug ein flottes Marschtempo an und blieb nur gelegentlich stehen, um einen geeigneten Arm- oder Beinknochen aufzuheben. Oy begriff rasch, worum es ging, und fing an, Knochen zu apportieren. Das Wesen verfolgte sie weiter. Gelegentlich erhaschte Susannah einen Blick auf dessen feucht glänzende Haut. Aber selbst wenn es aus dem flackernden Licht ihrer jeweiligen Fackel zurückwich, konnte sie weiter das schmatzende Stampfen hören, als wäre dort ein Riese mit Schlamm in
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