Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
Leuchtkugeln?«, fragte sie. »Ein Abschnitt, in dem sie noch brennen?«
»Vielleicht. Ich glaub’s aber nicht.«
Fünf Minuten später merkte sie, dass sie im Schein einer ihrer letzten Fackeln Boden und Wände des Korridors erkennen konnte. Der Boden war mit einer dünnen Schicht aus Staub und Kieselsteinen bedeckt, die nur von draußen hereingeweht worden sein konnte. Susannah, die in der Linken einen flammenden Knochen hielt, dessen Ende mit einem T-Shirt umwickelt war, reckte beide Arme hoch und stieß einen Triumphschrei aus. Das Ungeheuer antwortete mit einem wütenden, verärgerten Brüllen, das ihrem Herzen wohl tat, auch wenn sie davon am ganzen Körper eine Gänsehaut bekam.
»Lebe wohl, Schätzchen!«, schrie sie. »Lebe wohl, du vieläugiger Motherfucker!«
Es brüllte noch einmal und warf sich dabei nach vorn. Einen Augenblick lang sah sie es deutlich: ein mächtiger runder Klumpen, der trotz des offen stehenden Mauls nicht als Kopf bezeichnet werden konnte; der gegliederte Leib, der von den Kontakten mit den unebenen Wänden zerkratzt war und Schleim absonderte; ein Quartett aus kräftigen Stummelarmen, zwei auf jeder Seite. Die Arme endeten in klappernden Scheren. Als Susannah aufschrie und ihm wieder die Fackel entgegenstreckte, wich das Ungeheuer mit einem weiteren ohrenbetäubenden Brüllen zurück.
»Hat deine Mutter dir nicht beigebracht, dass man Tiere nicht ärgern darf?«, sagte Roland. Seine Stimme klang dabei so trocken, dass sie nicht wusste, ob er sie necken wollte oder nicht.
Fünf Minuten später waren sie draußen.
Kapitel II
A UF DER Ö DLAND -P RACHTSTRASSE
1
Sie verließen den Korridor durch einen zerbröckelten Stollenausgang am Fuß des Steilhangs neben einer Nissenhütte, die der Experimentalstation von Bogen 16 glich, aber viel kleiner war. Die Außenhaut dieses kleinen Gebäudes war mit Rost bedeckt. Vor seiner Vorderfront lagen Knochenhaufen, die ungefähr kreisförmig angeordnet waren. Die Felsen in der Umgebung waren geschwärzt und an einigen Stellen gesprungen; ein Felsblock von der Größe des Queen-Anne-Hauses im Algul Siento, in dem die Taheen gelebt und gearbeitet hatten, klaffte in der Mitte auseinander und ließ erkennen, dass er mit funkelnden Mineralen gefüllt war. Die Luft war kalt, und sie konnten das rastlose Heulen des Windes hören, aber die Felsen hielten das Schlimmste ab, weshalb sie das Gesicht in stummer Dankbarkeit dem klaren blauen Himmel zuwandten.
»Hier hat irgendeine Art Kampf stattgefunden, stimmt’s?«, sagte Susannah.
»Ja, vermutlich. Ein großer, vor langer Zeit.« Roland schien völlig erledigt zu sein.
Vor der halb offenen Tür der Nissenhütte lag ein Schild, allerdings mit der Schriftseite nach unten. Susannah bestand darauf, dass er sie absetzte, damit sie es umdrehen und lesen konnte. Roland tat, was sie verlangte, dann lehnte er sich sitzend an einen Felsen zurück und starrte Schloss Discordia an, das jetzt hinter ihnen lag. Zwei Türme ragten ins Himmelsblau auf: der eine ganz, der andere im oberen Viertel gekappt. Roland bemühte sich, möglichst wieder zu Atem zu kommen. Der Boden unter ihm war verdammt kalt, und er wusste bereits, dass ihre Reise durch das Ödland schwierig werden würde.
Susannah hatte unterdessen das Schild aufgehoben. Sie hielt es in der einen Hand und rieb mit der anderen festgebackenen alten Schmutz ab. Was dann auf dem Schild zu lesen war, ließ ihr einen kalten Schauder über den Rücken laufen:
DIESER KONTROLLPUNKT IST
GESCHLOSSEN.
FÜR IMMER.
Darunter, in Rot, als ob es sie anstarrte, war das Auge des Königs zu sehen.
2
Der Hauptraum der Nissenhütte enthielt nichts außer zertrümmerten Einrichtungsgegenständen und weiteren Skeletten, von denen keines vollständig war. Im Lagerraum nebenan entdeckte sie köstliche Überraschungen: lange Regale mit Konserven – viel mehr, als sie hätten tragen können. Und auch weitere Sterno-Büchsen. (Sie glaubte nicht, dass Roland noch einmal über »eingedöste Hitze« lästern würde, und damit lag sie auch richtig.) Wie aus einem Treppenwitz heraus streckte sie den Kopf aus der Hintertür des Lagerraums und erwartete eigentlich nur, dort ein paar Skelette zu finden. Sie sah lediglich eines. Das Wertvolle an ihm aber war das Fahrzeug, auf dem diese lose Ansammlung von Knochen ruhte: ein Wägelchen von der Art wie der Karren, auf dem Susannah bei ihrem Palaver mit Mia auf dem Wehrgang des Schlosses gesessen hatte. Das
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