Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
spielenden Muskeln tanzte er fast die Stufen hinunter. Dann umgab sie völlige Dunkelheit.
»Bell, Oy, damit wir nicht übereinander fallen!«, knurrte Roland. »Bellen!«
Oy bellte. Dreißig Sekunden später wurde der Befehl wiederholt, und Oy bellte nochmals.
»Roland, was ist, wenn die nächste Treppe kommt?«
»Die kommt bestimmt«, sagte er, und man brauchte nicht bis hundert zu zählen, dann war es so weit. Sie spürte, wie sein Oberkörper nach vorn kippte und er ins Stolpern geriet. Sie fühlte, wie er die Schultermuskeln anspannte und die Hände vor sich ausstreckte, aber er stürzte nicht. Susannah konnte seine Reflexe nur bewundern. Rolands Stiefel polterten in unvermindertem Tempo die im Dunklen unsichtbare Treppe hinunter. Diesmal zwölf Stufen? Vierzehn? Bevor sie richtig mitzählen konnte, befanden sie sich wieder auf einem ebenen Teil des Korridors. Jetzt wusste sie also, dass er imstande war, Treppen selbst bei Dunkelheit, selbst in vollem Lauf zu bewältigen. Aber was war, wenn er mit dem Fuß in eine Spalte geriet? Das war weiß Gott nur allzu leicht möglich, weil der Zustand des Bodens sich stetig verschlechtert hatte. Oder was war, wenn sie auf ein Hindernis aus aufgestapelten Skeletten stießen? Auch auf dem ebenen Teilstück hier wäre beim jetzigen Tempo wohl ein Sturz kaum zu vermeiden. Was aber war, wenn er oben an einer dieser kleinen Treppen über einen Knochenhaufen stolperte? Sie bemühte sich, das Bild zu verdrängen, wie Roland einem verkrüppelten Turmspringer gleich ins Schwarze hinaussegelte, schaffte es aber nicht ganz. Mit wie vielen gebrochenen Knochen würden sie beide nach der Bruchlandung am unteren Ende der Treppe liegen bleiben? Scheiße, Schätzchen, such dir schon mal ’ne Grabstelle aus, hätte Eddie vielleicht gesagt. Diese Rennerei mit Höchstgeschwindigkeit war Wahnsinn.
Aber sie hatten keine andere Wahl. Sie konnte das Lebewesen hinter ihnen jetzt nur allzu deutlich hören – nicht bloß seine sabbernden Atemzüge, sondern auch schleifende Geräusche, als würde Sandpapier eine Wand des Korridors streifen – oder auch beide. Zwischendurch hörte sie manchmal ein Klirren und Scheppern, wenn wieder eine Kachel abgerissen wurde. Es war unmöglich, sich aus diesen Geräuschen kein Bild zu machen, und vor Susannahs Augen formte sich ein riesiger schwarzer Wurm, dessen gegliederter Leib den Korridor ganz ausfüllte. Er riss immer wieder lose Kacheln ab und begrub sie unter seinem gallertartigen Körper, während er hungrig vorwärts schoss und den Abstand zwischen sich und ihnen stetig verringerte.
Und das jetzt auch weit schneller als zuvor. Susannah glaubte den Grund dafür zu kennen. Vorhin waren sie der Mittelpunkt einer sich mit ihnen bewegenden Lichtinsel gewesen. Was das Lebewesen hinter ihnen auch sein mochte, es war jedenfalls lichtscheu. Ihr fiel die Stablampe ein, die Roland aus dem Dogan mitgenommen hatte, die ohne frische Batterien allerdings nahezu wertlos war. Hätte sie den Schalter an dem langen Stab betätigt, wäre das verdammte Ding nach zwanzig Sekunden erloschen.
Andererseits … Augenblick.
Stab.
Der lange Metallstab!
Susannah wühlte in dem Ledersack, der gegen Rolands Seite schlug, und fand darin Konserven, aber das waren nicht die Büchsen, die sie suchte. Endlich geriet ihr aber eine davon, die sie am Aufreißstreifen um den Deckel erkannte, in die Finger. Sie hatte keine Zeit, sich zu fragen, warum die Dose sich sofort völlig vertraut anfühlte; Detta hatte so ihre Geheimnisse, und der Umgang mit Sterno gehörte vermutlich dazu. Sie hielt die Dose hoch, als könnte sie sich durch Riechen vergewissern, was sie enthielt, und knallte sie sich dabei prompt auf den Nasensattel, weil Roland plötzlich über irgendetwas strauchelte – vielleicht über herabgestürztes Mauerwerk, vielleicht über ein weiteres Skelett – und kämpfen musste, um auf den Beinen zu bleiben. Auch diesmal schaffte er es, aber irgendwann würde er hinschlagen, und das Lebewesen dort hinten würde vielleicht über ihnen sein, bevor er sich aufrappeln konnte. Susannah spürte, wie ihr warmes Blut übers Gesicht lief, und das Wesen hinter ihnen, das es wohl witterte, stieß einen gewaltigen kehligen Schrei aus. Sie musste an einen Riesenalligator in einem Sumpf in Florida denken, der sein schuppiges Haupt erhob, um den Mond anzubelfern. Und es war so nahe.
Lieber Gott, gib mir Zeit, dachte sie. So will ich nicht enden; bei einem Schusswechsel zu fallen ist eine
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