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Der dunkle Turm - Gesamtausgabe

Der dunkle Turm - Gesamtausgabe

Titel: Der dunkle Turm - Gesamtausgabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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alles.
    Sie steckte den Revolver weg, wies ihre leeren Hände vor, zog ihn dann an sich und umarmte ihn. Anfangs war er noch angespannt – noch ängstlich –, aber nach einiger Zeit löste sich seine Verkrampfung.
    »Was hast du, Liebling?«, fragte sie ihn mit gedämpfter Stimme. Dann erkundigte sie sieh, ohne zu merken, dass sie damit einen Ausdruck Rolands gebrauchte: »Was bekümmert dich?«
    Patrick löste sich aus ihrer Umarmung und zeigte genau nach Norden. Sie verstand nicht gleich, was er meinte, aber dann sah sie orangerote Lichter tanzen und mal hierhin, mal dorthin flitzen. Susannah schätzte ihre Entfernung auf mindestens fünf Meilen, konnte aber trotzdem nicht verstehen, dass sie die Lichter erst jetzt sah.
    Weiter mit leiser Stimme, um Roland nicht zu wecken, sagte sie: »Das sind nur Geisterlichter, Schätzchen – die können dir nichts anhaben. Roland nennt sie Hobs. So was wie Elmsfeuer oder so ähnlich.«
    Er hatte jedoch keine Ahnung, was Elmsfeuer war; das merkte sie an seinem unsicheren Blick. Sie begnügte sich damit, ihm zu versichern, dass die Lichter ihm nichts tun konnten, und tatsächlich kamen auch die Hobs nicht mehr näher heran. Noch während Susannah sie beobachtete, begannen sie fortzutanzen, und wenig später waren die meisten von ihnen wieder verschwunden. Vielleicht hatte sie sie ja fortgedacht. Früher hätte sie einen solchen Gedanken lächerlich gefunden, aber diese Zeiten waren längst vorbei.
    Patrick entspannte sich wieder ganz.
    »Willst du dich nicht wieder hinlegen, Schätzchen? Du brauchst deinen Schlaf.« Und sie brauchte ihren, wenngleich sie ihn fürchtete. Bald würde sie Roland wecken, um ihrerseits zu schlafen, und dann würde der Traum kommen. Die Geister von Jake und Eddie würden sie ängstlicher besorgt als je zuvor anstarren. Weil sie etwas wissen sollte, was sie nicht wusste, nicht wissen konnte.
    Patrick schüttelte den Kopf.
    »Bist wohl gar nicht müde?«
    Wieder ein Kopfschütteln.
    »Na ja, willst du dann nicht noch ein bisschen zeichnen?« Dabei kam er immer am besten zur Ruhe.
    Der Junge nickte lächelnd und ging sofort zu Ho Fat II, um den gegenwärtig benutzten Zeichenblock zu holen. Er machte übertrieben große schleichende Schritte, damit Roland ja nicht aufwachte. Darüber musste sie lächeln. Patrick zeichnete leidenschaftlich gern; seine Einzelhaft im Keller von Dandelos Hütte hatte er vermutlich nur deshalb überstanden, weil er gewusst hatte, dass der alte Scheißkerl ihm ab und zu Zeichenblock und Bleistift geben würde. Er ist genauso süchtig wie Eddie in seiner schlimmsten Zeit, überlegte sie sich, nur dass Patricks Droge aus einer dünnen Bleistiftmine besteht.
    Er setzte sich und begann zu zeichnen. Susannah nahm ihre Wache wieder auf, spürte aber bald ein eigenartiges Kribbeln im ganzen Körper, so als würde sie jemand beobachten. Sie musste gleich wieder an Mordred denken, lächelte dann jedoch sofort (was ziemlich wehtat, weil der Abszess doch in letzter Zeit wieder dick war). Nicht Mordred; Patrick. Der Junge beobachtete sie.
    Patrick zeichnete sie.
    Sie saß fast zwanzig Minuten lang still da, dann wurde ihre Neugier übermächtig. In dieser Zeit hätte Patrick mit der Mona Lisa fertig sein müssen – vielleicht als Dreingabe noch mit dem Petersdom als Hintergrund. Dieses kribbelnde Gefühl war so eigenartig, fast nicht nur eine Kopfsache, sondern eine regelrechte körperliche Empfindung.
    Als sie zu ihm hinüberging, hielt Patrick seinen Zeichenblock anfangs mit ungewohnter Schüchternheit an die Brust gedrückt. Aber er wollte, dass Susannah ihr Porträt sah; das stand in seinem Blick. Fast der Blick eines Liebenden, wenngleich sie vermutete, dass er sich eher in die von ihm gezeichnete Susannah verliebt hatte.
    »Komm schon, Süßer«, sagte sie und fasste mit einer Hand nach dem Block. Trotzdem würde sie ihn Patrick nicht aus den Händen ziehen, selbst wenn er das vielleicht wollte. Er war der Künstler; er musste selbst entscheiden, ob er ihr seine Arbeit zeigen wollte oder nicht. »Bitte, ja?«
    Der Junge presste den Block noch einen Augenblick länger an sich. Dann – schüchtern, ohne sie anzusehen – hielt er ihn ihr hin. Sie nahm ihn entgegen und blickte auf ihr Porträt hinab. Es verschlug ihr fast den Atem, so gut war es. Die großen, ausdrucksvollen Augen. Die hohen Wangenknochen, die ihr Vater immer »diese Juwelen Äthiopiens« genannt hatte. Die vollen Lippen, die Eddie so gern geküsst hatte. Das war

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