Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
sie; das war sie, wie sie leibte und lebte … aber zugleich war es mehr als sie. Sie hätte nie geglaubt, dass Liebe so unverfälscht aus bloßen Bleistiftstrichen sprechen könnte, aber das tat wahre Liebe hier, gewisslich wahr: die Liebe eines Jungen für die Frau, die ihn gerettet, die ihn aus einem finsteren Loch befreit hatte, in dem er sonst sicherlich gestorben wäre. Liebe für sie als Mutter, Liebe für sie als Frau.
»Patrick, es ist wundervoll!«, sagte sie.
Er sah sie zweifelnd an. Wirklich?, fragten seine Augen, und sie erkannte, dass nur er – der arme, bedürftige Patrick in seinem Inneren, der schon immer mit dieser Fähigkeit lebte und sie deshalb für selbstverständlich hielt – an der schlichten Schönheit seines Werkes zweifeln konnte. Zeichnen machte ihn glücklich; das hatte er schon immer gewusst. Dass seine Bilder auch andere glücklich machen konnten … an diese Vorstellung würde er sich erst gewöhnen müssen. Sie fragte sich wieder einmal, wie lange Dandelo ihn gefangen gehalten hatte und wie Patrick überhaupt in die Fänge dieses alten Scheusals geraten sein mochte. Aber das würde sie wohl nie erfahren. Viel wichtiger erschien es ihr jetzt zudem, ihn von seinem eigenen Wert zu überzeugen.
»Ja«, sagte sie. »Ja, es ist wundervoll. Du bist ein großer Künstler, Patrick. Es macht glücklich, deine Bilder zu betrachten.«
Diesmal vergaß er, die Zähne zusammenzubeißen. Und sein Lächeln, auch wenn es zungenlos war, war so wunderbar, dass sie es hätte vernaschen können. Es ließ alle ihre Ängste und Sorgen klein und töricht erscheinen.
»Darf ich’s behalten?«
Patrick nickte eifrig. Er machte mit einer Hand eine Abreißbewegung, dann deutete er auf sie. Ja! Reiß es ab! Nimm es! Behalt es!
Sie wollte das Blatt gerade abreißen, hielt dann jedoch inne. Seine Liebe (und sein Bleistift) hatten sie schön gemacht. Der einzige Makel an dieser Schönheit war das schwarze, hässliche Geschwür neben ihrer Unterlippe. Sie zeigte ihm das Porträt, tippte auf das Geschwür und berührte dann die Stelle. Sie verzog das Gesicht. Schon die leichteste Berührung war schmerzhaft. »Das ist der einzige Makel«, sagte sie.
Er zuckte die Achseln und hob dabei die offenen Hände bis zu den Schultern – eine Geste, über die sie lachen musste. Das tat sie leise, um Roland nicht zu wecken, aber sie musste wirklich lachen. Ihr fiel ein Ausspruch aus irgendeinem alten Film ein: Ich male, was ich sehe.
Nur war dies kein Gemälde, und ihr fiel plötzlich ein, wie er dieses faulige, hässliche, schmerzhafte Ding entfernen könnte. Zumindest in der Form, in der es auf dem Papier existierte.
Dann ist sie mein Zwilling, dachte sie liebevoll. Meine bessere Hälfte; meine hübsche Zwillingsschwe …
Und plötzlich verstand sie alles.
Alles? Verstand sie alles?
Ja, würde sie später glauben. Nicht auf irgendeine stimmige Weise, die sich hätte niederschreiben lassen – ist a + b = c, dann gilt c – b = a und c – a = b –, aber doch, ja, sie verstand alles. Erfasste alles intuitiv. Kein Wunder, dass Traum-Eddie und Traum-Jake so ungeduldig mit ihr gewesen waren; schließlich lag alles auf der Hand.
Patrick, der sie mit Linien nachgezogen hatte.
Auch war dies nicht das erste Mal, dass sie gezogen worden war.
Roland hatte sie in diese Welt gezogen … mittels Magie.
Eddie hatte sie durch Liebe an sich gezogen.
Das hatte auch Jake getan.
Großer Gott, war sie schon so lange hier gewesen und hatte so viel durchgemacht, ohne zu erkennen, was Ka-Tet war, was es bedeutete? Ka-Tet bedeutete Familie.
Ka-Tet bedeutete Liebe.
Zeichnen bedeutete, Striche mit Bleistift – auch mit Kohle oder Pastellstift – zu ziehen.
Ziehen oder anziehen bedeutete auch faszinieren, anlocken oder heranziehen. Jemanden aus sich hervorlocken.
Die Drawers waren die Orte gewesen, zu denen Detta sich hingezogen fühlte, wo sie ihre Selbstverwirklichung gesucht hatte.
Patrick, dieses zungenlose Wunderkind, in der Wildnis gefangen. In den Drawers gefangen. Und nun? Nun?
Jetzt isser mein Für-gut, dachte Susannah/Odetta/Detta, griff in ihre Umhängetasche, um das Glas herauszuholen, und wusste genau, was sie tun und weshalb sie’s tun würde.
Als sie ihm den Zeichenblock zurückgab, ohne das erste Blatt mit ihrem Porträt abzureißen, wirkte Patrick schwer enttäuscht.
»Nar, nar«, sagte sie (und mit der Stimme vieler). »Du sollst bloß noch eine Kleinigkeit ändern, bevor ich es auf ewig als meinen
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