Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
schlagartig nach, dass sie beide zu Boden gingen.
»Gott sei Dank!«, rief Susannah aus.
»Dankt ihm später!« Roland musste mit ganzer Kraft gegen den brausenden Sturm anschreien. »Drückt die verdammte Tür zu! Alle zusammen! Susannah, du ganz unten! Mit aller Gewalt! Wenn sie zu ist – falls wir sie zubekommen –, legst du den Querriegel vor, Jake! Hast du verstanden? Lass ihn in die Halterungen fallen! Und zwar schnellstens!«
»Das weiß ich auch allein!«, blaffte Jake zurück. An der rechten Schläfe hatte er eine Risswunde, aus der ihm ein dünner Blutfaden über die Wange lief, aber sein Blick war klar und unerschrocken.
»Jetzt! Drückt! Drückt um euer Leben!«
Langsam schloss sich die Tür. Sie hätten sich nicht lange dagegenstemmen können – eine Frage von Sekunden –, aber das war nicht länger nötig. Jake ließ den Querriegel in die Halterungen fallen, und als sie vorsichtig zurücktraten, wurde klar, dass die massiven, rostigen Klammern halten würden. Keuchend sahen sie einander an, dann auf Oy hinunter. Der einen fröhlichen Kläfflaut von sich gab und zum Kamin lief, um sich am Feuer zu rösten. Der Bann, in den der heraufziehende Sturm ihn geschlagen hatte, schien gebrochen zu sein.
Schon wenige Schritte vom offenen Kamin entfernt wurde der Raum bereits spürbar kälter.
»Du hättest ihn mich holen lassen sollen, Roland«, sagte Eddie. »Er hätte dort draußen leicht umkommen können.«
»Für Oy war Jake verantwortlich. Er hätte ihn früher reinholen sollen. Ihn notfalls irgendwo festbinden müssen. Findest du nicht auch, Jake?«
»Irgendwie schon.« Jake ging neben Oy in die Hocke, streichelte den dichten Pelz des Bumblers und rieb sich mit der anderen Hand das Blut vom Gesicht.
»Roland«, sagte Susannah. »Er ist nur ein kleiner Junge.«
»Längst nicht mehr«, sagte Roland. »Erflehe deine Verzeihung, aber … schon längst nicht mehr.«
16
In den beiden ersten Stunden des Stoßwinds waren sie wiederholt im Zweifel, ob das steinerne Versammlungshaus standhalten würde. Der Orkan heulte, und Bäume brachen mit krachenden Geräuschen ab, die an Granateinschläge erinnerten. Ein umstürzender Baum streifte das Dach und schlug ein Loch hinein. Kalte Luft strömte zwischen den Brettern über ihnen herein. Susannah und Eddie legten die Arme umeinander. Jake beugte sich schützend über Oy – der jetzt zufrieden auf dem Rücken lag und die kurzen Beine nach allen Richtungen von sich streckte – und sah zu den wirbelnden Wolken aus Vogelkot auf, die aus den Ritzen in der Decke herabsanken. Roland machte ungerührt mit den Vorbereitungen für ihr bescheidenes Abendessen weiter.
»Was denkst du, Roland?«, fragte Eddie.
»Wenn das Gebäude noch eine Stunde lang stehen bleibt, kann uns nicht mehr viel passieren. Die Kälte wird noch zunehmen, aber der Wind wird etwas abflauen, wenn es dunkel wird. Morgen bei Tagesanbruch wird er sich noch weiter abschwächen, und übermorgen wird die Luft still und wieder viel wärmer sein. Nicht mehr so wie vor dem Sturm, aber diese Wärme war auch unnatürlich, das haben wir alle gewusst.«
Er betrachtete sie mit einem angedeuteten Lächeln. Auf seinem Gesicht, das sonst immer eine starre, ernste Miene zeigte, wirkte es ungewohnt.
»Unterdessen haben wir ein gutes Feuer – nicht ausreichend, den ganzen Raum zu heizen, aber warm genug, wenn wir dicht dran bleiben. Und etwas Zeit, uns auszuruhen. Wir haben immerhin einiges durchgemacht.«
»Und ob«, sagte Jake. » Zu viel.«
»Bestimmt liegen noch weitere Prüfungen vor uns. Gefahr, Entbehrungen, Leid. Vielleicht auch der Tod. Deshalb sollten wir uns wie in alter Zeit um das Feuer scharen und uns von ihm trösten lassen, so gut es eben geht.« Er musterte sie nacheinander, nach wie vor mit diesem kleinen Lächeln. Der Feuerschein verlieh ihm ein seltsames Profil: jung auf der einen Seite, uralt auf der anderen. »Wir sind ein Ka-Tet . Wir sind eins aus vielen. Seid dankbar für Wärme, ein Dach über dem Kopf und Gesellschaft während des Sturms. Andere sind vielleicht nicht so glücklich dran.«
»Wir hoffen, dass sie’s sind!«, sagte Susannah, die dabei an Bix dachte.
»Kommt«, sagte Roland. »Esst.«
Sie versammelten sich um ihren Dinh und aßen, was er für sie zubereitet hatte.
17
In dieser Nacht schlief Susannah anfangs eine, höchstens zwei Stunden lang, aber ihre Träume – in denen sie aus irgendwelchen Gründen unappetitliche, von Maden durchsetzte Speisen essen
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