Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
Seidenhaube sich kurz wie Vorhänge vor ihrem Gesicht schlossen. Als sie sich wieder aufrichtete, kam eine winzige Frau durch das offene Tor geglitten. Vielleicht war sie auch nur durchschnittlich groß. Möglicherweise wirkte sie lediglich im Vergleich zu Everlynne winzig. Sie trug kein Musselingewand, sondern ein Schwesternhabit aus grobem, grauem Baumwollgewebe; die Arme hatte sie vor ihrem kaum vorhandenen Busen verschränkt, und die Hände steckten tief in den weiten Ärmeln. Obwohl sie keine Haube trug, konnten wir nur die eine Hälfte ihres Gesichts sehen. Die andere verdeckte ein dicker, weißer Mullverband. Sie knickste vor uns, dann verkroch sie sich im riesigen Schatten ihrer Priorin.
»Heb den Kopf, Fortuna, und erweise diesen Gentlemen deinen Respekt.«
Als sie schließlich aufsah, wurde mir klar, warum sie den Kopf gesenkt gehalten hatte. Der dicke Verband konnte nicht ganz verbergen, dass ein großer Teil der rechten Nasenhälfte fehlte. Wo diese gewesen war, sah man jetzt nur eine zerklüftete rote Furche.
»Heil«, flüsterte sie. »Mögen Eure Tage auf Erden lang sein.«
»Mögen Sie Euch doppelt vergönnt sein«, sagte Jamie, aber der kummervolle Blick ihres sichtbaren linken Auges zeigte mir, dass sie hoffte, dieser Fall würde nicht eintreten.
»Erzähl ihnen, was passiert ist«, forderte Everlynne sie auf. »Oder woran du dich erinnerst. Ich weiß, dass es nicht viel ist.«
»Muss ich, Mutter?«
»Ja«, sagte die Priorin. »Sie sind nämlich gekommen, um dem Schrecken ein Ende zu machen.«
Fortuna musterte uns zweifelnd mit einem kurzen Seitenblick, dann wandte sie sich wieder an Everlynne. »Können sie das? Sie sehen so jung aus.«
Als sie merkte, wie unhöflich diese Frage geklungen haben musste, errötete ihre sichtbare, linke Wange. Sie schwankte leicht, und Everlynne legte ihr einen Arm um die Schultern. Sie hatte offenbar schwere Verletzungen erlitten, von denen sie sich noch längst nicht erholt hatte. Das Blut, das ihre Wange gefärbt hatte, wurde anderswo in ihrem Körper dringender gebraucht. Vor allem unter dem Gesichtsverband, nahm ich an, obwohl ihre weite Schwesterntracht nicht erkennen ließ, wo sie sonst noch verletzt sein mochte.
»Sie müssen sich vielleicht noch nicht jeden Tag rasieren, aber sie sind Revolvermänner, Fortie. Wenn sie es nicht schaffen, diese verfluchte Stadt in Ordnung zu bringen, dann schafft es niemand. Außerdem tut dir das bestimmt gut. Das Grauen ist ein Wurm, der herausgewürgt werden muss, bevor er sich vermehren kann. Erzähl’s ihnen jetzt.«
Sie begann zu erzählen. Während sie das tat, kamen weitere Serenitas-Schwestern heraus, zwei mit einem Tisch und Stühlen, die anderen mit Speisen und Getränken. Nach Aussehen und Geruch war es weit besseres Essen als das, was es an Bord von Klein-Puffpuff gegeben hatte, aber als Fortuna mit ihrer kurzen, schrecklichen Geschichte zu Ende war, war mir der Appetit vergangen. Und Jamie ging es offenbar ähnlich.
Ereignet hatte sich alles fünfzehn Tage zuvor in der Abenddämmerung. Ihre Mitschwester Dolores und sie waren herausgekommen, um das Tor zu schließen und Abwaschwasser zu holen. Fortuna war die mit dem Eimer gewesen, deshalb hatte sie überlebt. Als Dolores dabei war, das Tor wieder zu schließen, hatte ein Ungeheuer es weit aufgestoßen, sie gepackt und ihr mit seinem riesigen Maul den Kopf abgebissen. Fortuna sagte, das habe sie sehr gut sehen können, weil der volle Hausierermond bereits am Himmel gestanden habe. Das Ungeheuer war größer als ein Mensch gewesen; statt Haut hatte es Schuppen und dazu einen langen Schwanz gehabt, den es schlangengleich hinter sich hergeschleppt hatte. In seinem flachen Schädel glühten gelbe Augen mit schwarzen Schlitzen als Pupillen. Seine Echsenschnauze glich einem Fangeisen, das mit spannenlangen Reißzähnen besetzt war. Sie troffen von Dolores’ Blut, als es ihren noch zuckenden Leib aufs Pflaster fallen ließ und auf stämmigen Beinen zu dem Brunnen lief, an dem Fortuna stand.
»Ich wollte flüchten … es hat mich eingeholt … und mehr weiß ich nicht.«
»Aber ich«, sagte Everlynne tonlos. »Ich habe die lauten Schreie gehört und bin mit unserer Flinte hinausgerannt. Sie ist ein großes, langes Ding, dessen Lauf am Ende glockenförmig erweitert ist. Sie ist seit undenklichen Zeiten geladen, aber keine von uns hat jemals damit geschossen. Sie hätte mir ohne Weiteres ins Gesicht fliegen können. Aber ich habe gesehen, wie es der armen
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