Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
»Alles in Ordnung.«
»Jake?«
Jake sah auf. Er grinste immer noch, und der Revolvermann sah, daß es mit ihm keine Probleme geben würde. Der Junge erlebte das Abenteuer seines Lebens. Das Haar wurde ihm in Strähnen aus der fein geschnittenen Stirn geweht, seine Augen strahlten. Er deutete mit dem Daumen nach oben. Roland lächelte und erwiderte die Geste.
»Eddie.«
»Mach dir meinetwegen keine Sorgen.«
Eddie schien Roland anzusehen, aber der Revolvermann hatte den Eindruck, als würde er in Wirklichkeit an ihm vorbei zu den fensterlosen Backsteingebäuden sehen, die das Ufer am anderen Ende der Brücke säumten. Das war in Ordnung; wenn man seine offensichtliche Höhenangst berücksichtigte, war es wahrscheinlich das Beste, was er machen konnte, damit er nicht den Kopf verlor.
»Nein«, murmelte Roland. »Wir überqueren jetzt das Loch, Susannah. Keine hastigen Bewegungen. Verstanden?«
»Ja.«
»Wenn du dich anders hinsetzen möchtest, tu es jetzt.«
»Mir geht es bestens, Roland«, sagte sie ruhig. »Ich hoffe nur, Eddie kommt zurecht.«
»Eddie ist jetzt ein Revolvermann. Er wird sich auch wie einer benehmen.«
Roland drehte sich nach rechts, so daß er flußabwärts sah, und umklammerte das Geländer. Dann kletterte er über das Loch hinaus und schlurfte mit den Füßen auf dem rostigen Kabel entlang.
12
Jake wartete, bis Roland und Susannah den größten Teil der Lücke überquert hatten, dann setzte er sich selbst in Bewegung. Der Wind wehte böig, und die Brücke schwankte hin und her, aber er hatte überhaupt keine Angst. Er war sogar völlig aufgedreht. Im Gegensatz zu Eddie hatte er nie Höhenangst gehabt; es gefiel ihm hier oben, wo er den ganzen Fluß überblicken konnte, der sich wie ein Stahlband unter einem Himmel erstreckte, der sich langsam bewölkte.
Auf halber Strecke über dem Loch in der Brücke (Roland und Susannah hatten die Stelle erreicht, wo der unebene Brückenbelag wieder anfing, und beobachteten die anderen), sah Jake zurück und verspürte Niedergeschlagenheit. Sie hatten ein Mitglied der Gemeinschaft vergessen, als sie sich darüber unterhalten hatten, wie sie die Lücke überqueren sollten. Oy kauerte erstarrt und offensichtlich von Todesangst geplagt auf der anderen Seite des Lochs im Fußweg. Er schnupperte an der Stelle, wo der Beton aufhörte und die rostige, gerundete Stütze anfing.
»Komm schon, Oy!« rief Jake.
»Oy!« rief der Bumbler zurück, und das Zittern seiner Stimme klang fast menschlich. Er streckte den langen Hals nach vorne Richtung Jake, bewegte sich aber nicht. Seine goldumrandeten Augen waren groß und furchtsam.
Eine weitere Windbö strich über die Brücke hinweg und brachte sie zum Schwanken. Etwas surrte neben Jakes Kopf – der Klang einer Gitarrensaite, die gespannt wurde, bis sie reißt. Ein Stahlfaden schnellte aus dem Aufhänger neben ihm heraus und zerkratzte ihm fast die Wange. Zehn Schritte entfernt kauerte Oy und ließ Jake nicht aus den Augen.
»Komm weiter!« rief Roland. »Der Wind nimmt zu! Komm her, Jake!«
»Nicht ohne Oy!«
Jake schlurfte den Weg zurück, den er gekommen war. Er war noch keine zwei Schritte gegangen, als Oy zaghaft auf die Stahlstrebe trat. Die Krallen an den Enden seiner steif gespreizten Beine kratzten auf der gerundeten Metalloberfläche. Eddie stand hinter dem Bumbler und fühlte sich hilflos und zu Tode geängstigt.
»So ist es recht, Oy!« ermutigte Jake ihn. »Komm zu mir!«
»Oy-Oy! Ake-Ake!« rief der Bumbler und wuselte hastig über die Strebe. Er war fast bei Jake, als der verräterische Wind wieder aufkam. Die Brücke schwang. Oys Pfoten scharrten, panisch nach Halt suchend, auf der Strebe, fanden aber keinen. Seine Hinterfüße rutschten vom Rand ins Leere. Er versuchte, sich mit den Vorderpfoten festzukrallen, aber es gab nichts, woran er sich festkrallen konnte. Seine Hinterbeine strampelten wie von Sinnen in der Luft.
Jake ließ das Geländer los und lief zu ihm; er dachte an nichts anderes als an Oys goldumrandete Augen.
»Nein, Jake!« bellten Roland und Eddie gleichzeitig, jeder von seiner Seite des Lochs und jeder zu weit entfernt, um einzugreifen.
Jake landete bäuchlings auf dem Kabel. Der Schulranzen schlug ihm gegen die Schulterblätter, und er hörte seine Zähne aufeinanderschlagen, was ein Geräusch wie ein Stoßball erzeugte, der beim Billard das Dreieck auseinanderschießt. Der Wind frischte wieder auf. Jake neigte sich mit ihm, klammerte die rechte Hand um
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