Der dunkle Wächter
Erinnerungen lasteten auf ihrer Seele wie die Spuren eines Sturms, so wie auch die unsichtbare Gegenwart von Lazarus’ kranker Frau die Atmosphäre auf Cravenmoore durchtränkte. Unsichtbare Zeugen in der Dunkelheit.
Einige Stunden schlichter Konversation genügten ihr, um aus dem Blick des Spielzeugfabrikanten lesen zu können, dass ihm ähnliche Gedanken durch den Kopf gingen. Aber sie las auch darin, dass er seiner Frau auf ewig verpflichtet sein würde und die Zukunft für sie beide nicht mehr bereithielt als eine Freundschaft. Eine tiefe Freundschaft. Eine unsichtbare Brücke zwischen zwei Welten, getrennt durch Ozeane voller Erinnerungen.
Goldenes Licht kündigte die Abenddämmerung an und fiel wie ein Gespinst aus leuchtenden Fäden in Lazarus’ Arbeitszimmer. Lazarus und Simone sahen sich schweigend an.
»Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen, Lazarus?«
»Natürlich.«
»Aus welchem Grund sind Sie Spielzeugfabrikant geworden? Mein verstorbener Mann war Ingenieur, und ein recht begabter. Aber Ihre Arbeit lässt ein wirklich bahnbrechendes Talent erkennen. Und ich übertreibe nicht, Sie wissen das genauso gut wie ich. Weshalb Spielzeug?«
Lazarus lächelte stumm.
»Sie müssen mir nicht antworten«, setzte Simone hinzu.
Der Mann erhob sich und trat langsam ans Fenster. Seine Gestalt wurde in Gold getaucht.
»Das ist eine lange Geschichte«, begann er. »Als ich noch ein Kind war, lebte meine Familie im alten Distrikt Les Gobelins in Paris. Vielleicht kennen Sie die Gegend, ein Armeleuteviertel mit düsteren, ungesunden alten Häusern. Eine gespenstische graue Zitadelle mit engen, elenden Gassen. Zu jener Zeit war die Situation noch viel schlimmer, als Sie das in Erinnerung haben mögen– falls das überhaupt möglich ist. Wir hausten in einer winzigen Bleibe in einem alten Mietshaus in der Rue des Gobelins. Ein Teil der Fassade war abgestützt, weil sie einzustürzen drohte, doch keine der Familien, die dort wohnten, konnte es sich leisten, in eine bessere Gegend des Viertels zu ziehen. Wie wir dort alle zusammen wohnen konnten, meine drei Brüder und ich, meine Eltern und Onkel Luc, ist mir nach wie vor ein Rätsel. Aber ich schweife ab…
Ich war ein einsamer Junge. Immer schon. Die meisten Jungen aus der Straße schienen sich für Dinge zu interessieren, die mich langweilten, die Dinge hingegen, die mich interessierten, lockten niemanden, den ich kannte, hinterm Ofen hervor. Ich hatte lesen gelernt– ein Wunder–, und meine Freunde waren überwiegend Bücher. Das wäre durchaus ein Grund zur Sorge für meine Mutter gewesen, hätte es nicht drängendere Probleme zu Hause gegeben. Meine Mutter glaubte immer, eine gute Kindheit bestehe darin, durch die Straßen zu stromern und sich durch Nachahmen das Verhalten und die Ansichten seiner Umgebung anzueignen.
Mein Vater wartete nur darauf, dass meine Brüder und ich alt genug waren, um zum Unterhalt der Familie beizutragen.
Andere Kinder hatten weniger Glück. In unserem Haus wohnte damals ein Junge in meinem Alter namens Jean Neville. Jean und seine Mutter, eine Witwe, hausten in einer winzigen Wohnung im Parterre, gleich neben dem Eingang. Der Vater des Jungen war Jahre zuvor an einer Nervenerkrankung gestorben, die er sich in der Fliesenfabrik zugezogen hatte, in der er sein Leben lang gearbeitet hatte. Eine häufige Sache, wie es scheint. Ich erfuhr das alles, weil ich der einzige Freund war, den der kleine Jean im Viertel hatte. Anne, seine Mutter, ließ ihn nicht aus dem Haus und dem Hinterhof. Sein Zuhause war ein Gefängnis.
Acht Jahre zuvor hatte Anne Neville im alten Hospital Saint Christian in Montparnasse Zwillinge zur Welt gebracht. Jean und Joseph. Joseph kam tot zur Welt. In den darauffolgenden acht Jahren seines Lebens lernte Jean, mit der finsteren Schuld aufzuwachsen, seinen Bruder bei der Geburt umgebracht zu haben. Zumindest glaubte er das. Anne erinnerte ihn an jedem Tag seines Lebens daran, dass sein Bruder durch seine Schuld leblos zur Welt gekommen sei; wäre er nicht gewesen, nähme nun ein wunderbarer Junge seinen Platz ein. Nichts, was er tat oder sagte, fand die Zustimmung seiner Mutter.
Nach außen hin ließ Anne Neville ihrem Sohn natürlich die übliche Zuwendung angedeihen. Doch die Wirklichkeit in der Einsamkeit der Wohnung sah anders aus. Anne machte Jean Tag für Tag Vorwürfe: Er sei ein Faulpelz. Ein Nichtsnutz. Seine Schulleistungen seien ein Trauerspiel. Seine Fähigkeiten mehr als fraglich. Seine
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