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Der dunkle Wächter

Der dunkle Wächter

Titel: Der dunkle Wächter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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Horizont wie eine Scheibe aus glühendem Eisen. Irene beobachtete schweigend, wie Ismael das Segelboot steuerte. Der Junge lächelte ihr zu, dann richtete er den Blick wieder auf die Segel, um genau auf die Richtung des Windes zu achten, der von Westen aufkam.
    Vor ihm hatte Irene zwei Jungen geküsst. Das erste Mal mit dem Bruder einer Schulfreundin war vor allem ein Experiment gewesen. Sie hatte wissen wollen, was man dabei empfand. Es war keine große Sache gewesen. Der Zweite, Gerard, hatte mehr Angst gehabt als sie, und das Erlebnis hatte ihre Zweifel hinsichtlich des Themas nicht zerstreut. Ismael zu küssen war anders gewesen. Als sich ihre Lippen berührten, war eine Art Stromstoß durch ihren Körper gefahren. Er fühlte sich anders an. Er roch anders. Alles an ihm war anders.
    »Woran denkst du?« Diesmal war es Ismael, den ihre abwesende Miene neugierig machte.
    Irene zog geheimnisvoll die Augenbraue hoch.
    Er zuckte mit den Schultern und hielt weiter auf das Kap zu. Ein Vogelschwarm begleitete sie bis zum Anleger zwischen den Klippen. Die Lichter des Hauses ließen helle Reflexe auf der kleinen Bucht tanzen. Weiter weg glitzerten die Lichter des Dorfes auf dem Wasser wie eine funkelnde Kette aus Sternen.
    »Es ist schon dunkel«, stellte Irene ein wenig besorgt fest. »Dir wird doch nichts passieren, oder?«
    Ismael lächelte.
    »Die
Kyaneos
findet den Weg von alleine. Mir passiert nichts.«
    Das Segelboot schmiegte sich sanft an den Anleger. Das Krächzen der Vögel auf den Klippen bildete ein fernes Echo. Ein dunkelblauer Streifen legte sich nun über die flammend rote Linie des Sonnenuntergangs am Horizont, und der Mond spitzte zwischen den Wolken hervor.
    »Also dann… Es ist schon spät«, setzte Irene an.
    »Ja…«
    Das Mädchen sprang an Land.
    »Ich nehme das Tagebuch mit. Ich passe gut darauf auf, versprochen.«
    Ismael nickte. Irene rutschte ein kleines, nervöses Lachen heraus.
    »Gute Nacht.«
    Die beiden sahen sich im Dämmerlicht an.
    »Gute Nacht, Irene.«
    Ismael machte die Leinen los.
    »Ich habe überlegt, morgen zur Lagune zu fahren. Vielleicht willst du ja mitkommen…«
    Sie nickte. Die Strömung trug das Boot davon.
    »Ich komme dich hier abholen…«
    Die
Kyaneos
verschwand in der Dunkelheit. Irene blieb stehen und sah ihr hinterher, bis die schwarze Nacht die Jolle vollständig verschluckt hatte. Dann schwebte sie zwei Handbreit über dem Boden zum Haus am Kap hinauf. Ihre Mutter saß wartend auf der dunklen Veranda. Man brauchte kein Hellseher zu sein, um zu erkennen, dass Simone die ganze Szene am Anleger verfolgt hatte.
    »Wie war dein Tag?«, fragte sie.
    Irene schluckte. Ihre Mutter lächelte verschmitzt.
    »Du kannst es mir ruhig erzählen.«
    Irene setzte sich neben ihre Mutter und ließ sich von ihr in den Arm nehmen.
    »Und du?«, fragte das Mädchen zurück. »Was hast du so gemacht?«
    Simone entfuhr ein Seufzer, als sie an den Nachmittag mit Lazarus dachte.
    Schweigend umarmte sie ihre Tochter und lächelte vor sich hin.
    »Es war ein merkwürdiger Tag, Irene. Ich glaube, ich werde alt.«
    »So ein Unsinn.«
    Sie sah ihrer Mutter in die Augen.
    »Ist etwas nicht in Ordnung, Mama?«
    Simone lächelte schwach und schüttelte stumm den Kopf.
    »Ich vermisse deinen Vater«, antwortete sie schließlich, während ihr eine Träne die Wange hinablief.
    »Papa ist fort«, sagte Irene. »Du musst ihn gehen lassen.«
    »Ich weiß nicht, ob ich ihn gehen lassen will.«
    Irene nahm sie in die Arme und hörte, wie Simone in der Dunkelheit ihre Tränen vergoss.

6. Das Tagebuch der Alma Maltisse
    Am nächsten Morgen war alles in eine Nebeldecke gehüllt. Als der Tag anbrach, war Irene immer noch in die Lektüre des Tagebuchs vertieft, das Ismael ihr überlassen hatte. Was vor Stunden als bloße Neugier begonnen hatte, war im Laufe der Nacht immer stärker geworden und hatte sich schließlich in Besessenheit verwandelt. Mit der ersten, von der Zeit ausgeblichenen Zeile an hatten sich die handschriftlichen Aufzeichnungen dieser mysteriösen, in den Wassern der Bucht verschollenen Dame zu einem fesselnden Geheimnis entwickelt, einem ungelösten Rätsel, das das Mädchen nicht einmal an Schlaf denken ließ.
     
    … Heute habe ich zum ersten Mal das Gesicht des Schattens gesehen. Reglos lauernd, hat er mich stumm aus der Dunkelheit beobachtet. Ich weiß genau, was in diesen Augen lag, was ihn am Leben hält: Hass. Ich konnte seine Gegenwart spüren und wusste, dass sich unsere Tage an

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