Der dunkle Wächter
dass jemand – oder etwas– in der Nähe war.
Dorian verbarg sich im Gebüsch. Nadelspitze Zweige zerkratzten ihm die Haut. Er hielt den Atem an und betete, dass derjenige, der sich dort näherte, sein Herz nicht so laut pochen hörte wie er selbst in diesem Moment. Wenig später tasteten sich die flackernden Lichter, die er aus der Ferne gesehen hatte, durch das Unterholz und verwandelten den wabernden Nebel in einen rötlichen Brodem.
Auf der anderen Seite der Büsche waren Schritte zu hören. Der Junge schloss die Augen, während er zur Statue erstarrte. Die Schritte hielten inne. Dorian ging die Luft aus, aber wenn nötig, konnte er noch die nächsten zehn Jahre durchhalten, ohne zu atmen. Als er schließlich glaubte, seine Lungen würden platzen, schoben zwei Hände die Zweige des Gebüschs auseinander, hinter dem er sich versteckte. Seine Beine wurden zu Pudding. Das Licht einer Laterne blendete ihn. Nach einem Moment, der dem Jungen endlos vorkam, stellte der Unbekannte die Laterne auf den Boden und hockte sich vor ihm nieder. Ein vage vertrautes Gesicht leuchtete vor ihm auf, doch die Panik hinderte ihn daran, es zu erkennen. Der Unbekannte lächelte.
»Sieh an. Darf man erfahren, was du hier machst?«, fragte eine ruhige, freundliche Stimme.
Irgendwann begriff Dorian, dass der Mann dort vor ihm schlicht und einfach Lazarus war. Erst jetzt atmete er auf.
Es dauerte eine gute Viertelstunde, bis das Zittern in Dorians Händen nachließ. Lazarus reichte ihm eine Schale heiße Schokolade und setzte sich ihm gegenüber. Lazarus hatte ihn zu dem Anbau neben der Spielzeugfabrik geführt. Dort hatte er in aller Ruhe zwei Tassen Schokolade zubereitet.
Beide schlürften laut und sahen sich über die Tassen hinweg an, bis Lazarus schließlich zu lachen begann.
»Du hast mir einen Riesenschreck eingejagt, mein Junge«, sagte er.
»Wenn es Sie tröstet: das war nichts im Vergleich zu dem Schreck, den Sie mir eingejagt haben«, setzte Dorian hinzu, während er spürte, wie die heiße Schokolade in seinem Magen ein warmes Gefühl der Ruhe verbreitete.
»Daran habe ich keinen Zweifel«, lachte Lazarus. »Jetzt sag mir, was du da draußen gemacht hast.«
»Ich habe Lichter gesehen.«
»Du hast meine Laterne gesehen. Und deshalb bist du nach draußen gegangen? Um Mitternacht? Hast du vergessen, was mit Hannah passiert ist?«
Dorian schluckte, und es kam ihm vor, als schluckte er eine großkalibrige Bleikugel.
»Nein, Monsieur.«
»Gut. Dann vergiss es nicht. Es ist gefährlich, im Dunkeln hier herumzulaufen. Ich habe seit Tagen das Gefühl, dass sich jemand im Wald herumtreibt.«
»Haben Sie auch die Spuren gesehen?«
»Welche Spuren?«
Dorian erzählte ihm von seinen Ängsten und Befürchtungen bezüglich dieses seltsamen Wesens, das er im Wald vermutete. Anfangs glaubte er, er sei nicht dazu in der Lage, doch Lazarus flößte ihm die nötige Ruhe und das nötige Vertrauen ein, um seine Zunge zu lösen. Während der Junge erzählte, hörte Lazarus aufmerksam zu, doch bei den phantastischsten Details seiner Schilderung konnte er ein gewisses Erstaunen und auch das eine oder andere Lächeln nicht verbergen.
»Ein Schatten?«, fragte Lazarus plötzlich.
»Sie glauben kein Wort von dem, was ich gesagt habe«, stellte Dorian fest.
»Doch, doch. Ich glaube dir. Oder ich versuche dir zu glauben. Du musst verstehen, dass das, was du mir erzählst, ein wenig… sonderbar klingt«, sagte Lazarus.
»Aber Sie haben doch auch etwas gesehen. Deshalb sind Sie im Wald gewesen. Ist es nicht so?«
Lazarus lächelte.
»Ja. Ich hatte auch den Eindruck, etwas gesehen zu haben, aber ich kann es nicht so detailliert beschreiben wie du.«
Dorian trank seine Schokolade aus.
»Noch mehr?«, bot Lazarus an.
Der Junge nickte. Die Gesellschaft des Spielzeugfabrikanten war ihm angenehm. Mitten in der Nacht bei einer Tasse Schokolade mit ihm zusammenzusitzen erschien ihm aufregend und lehrreich.
Als er einen Blick in die Werkstatt warf, in der sie sich befanden, bemerkte Dorian auf einer der Werkbänke eine riesige Figur mit weit ausgebreiteten Armen, die unter einem Tuch verborgen war.
»Arbeiten Sie an etwas Neuem?«
Lazarus nickte bestätigend.
»Soll ich es dir zeigen?«
Dorians Augen wurden riesengroß. Eine Antwort war nicht nötig.
»Nun, du musst berücksichtigen, dass es eine unvollendete Arbeit ist…« sagte der Mann, während er zu dem Tuch ging und eine Laterne hochhielt.
»Ist es ein Automat?«, wollte der
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