Der dunkle Wächter
Unglück eine Neuauflage jener makabren Mordgeschichte sehen, ohne jedoch eine Erklärung dafür zu haben, dass diese sich schon in den zwanziger Jahren im Wald von Cravenmoore ereignet hatte.
Andere warteten lieber ab, bis weitere Einzelheiten über die genauen Umstände der Tragödie bekannt wurden. Doch bei allen Spekulationen kam kein Licht in die mögliche Todesursache. Die beiden Ausflügler, die die Leiche gefunden hatten, waren stundenlang auf dem Gendarmerieposten, um ihre Aussage zu machen, und zwei Gerichtsmediziner, so hieß es, seien auf dem Weg aus La Rochelle. Darüber hinaus war Hannahs Tod ein Mysterium.
Obwohl sie so schnell fuhr, wie sie nur konnte, erreichte Irene das Dorf erst, als die Sonne bereits vollständig hinter dem Horizont verschwunden war. Die Straßen waren verwaist, und die wenigen Gestalten, die unterwegs waren, gingen schweigend ihrer Wege wie herrenlose Schatten. Das Mädchen lehnte das Rad gegen eine alte Straßenlaterne, die den Anfang des Gässchens beleuchtete, in dem das Haus von Ismaels Onkel lag. Es war ein einfaches, bescheidenes Haus, eine Fischerkate an der Bucht. Der letzte Anstrich musste Jahrzehnte zurückliegen, und das warme Licht zweier Öllampen fiel auf eine vom salzigen Seewind zerfressene Fassade.
Mit Magenschmerzen näherte sich Irene der Haustür. Sie hatte Angst, anzuklopfen. Mit welchem Recht wagte sie es, in einem solchen Moment den Schmerz einer Familie zu stören? Was dachte sie sich nur dabei?
Sie blieb unvermittelt stehen, unfähig, weiterzugehen oder umzukehren, wie festgenagelt zwischen ihren Bedenken und dem Bedürfnis, Ismael zu sehen, in einem Moment wie diesem bei ihm zu sein. In diesem Augenblick öffnete sich die Haustür und der dickbäuchige, strenge Dorfarzt Doktor Giraud trat auf die Straße. Die hinter Brillengläsern hervorblitzenden Augen des Arztes entdeckten Irene in der Dunkelheit.
»Du bist doch die Tochter von Madame Sauvelle, stimmt’s?«
Sie nickte.
»Wenn du zu Ismael willst, der ist nicht zu Hause«, erklärte Giraud. »Als er das von seiner Cousine erfahren hat, ist er in sein Boot gestiegen und davongesegelt.«
Der Arzt sah, wie das Gesicht des Mädchens blass wurde.
»Er ist ein guter Seemann. Er wird zurückkommen.«
Irene ging bis zum Ende der Mole. Vom Mond beschienen, zeichnete sich die einsame Silhouette der
Kyaneos
im Dunst ab. Das Mädchen setzte sich auf den Damm und beobachtete, wie Ismael Kurs auf die Leuchtturminsel nahm. Nichts und niemand konnte ihn jetzt aus der selbstgewählten Einsamkeit retten. Irene wäre zu gerne in eines der Boote gestiegen und dem Jungen bis ans Ende seiner geheimen Welt gefolgt, doch sie wusste, dass jetzt jede Mühe vergebens war.
Sie spürte, wie die Nachricht mit voller Wucht in ihr Bewusstsein rückte, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Als die
Kyaneos
in der Dunkelheit verschwunden war, nahm sie das Fahrrad und machte sich auf den Heimweg.
Während sie die Strandstraße entlangfuhr, stellte sie sich vor, wie Ismael schweigend auf dem Leuchtturm saß, ganz allein mit sich. Sie erinnerte sich an die unzähligen Male, die sie selbst diese Reise in ihr eigenes Inneres unternommen hatte, und sie schwor sich, dass sie, was auch immer geschehen mochte, nicht zulassen würde, dass der Junge auf diesem Weg voller Schatten verloren ging.
Das Abendessen fiel kurz aus. Bei dieser schweigsamen Mahlzeit saß die Trauer mit am Tisch, während Simone und ihre beiden Kinder so taten, als brächten sie tatsächlich einen Bissen herunter, bevor sie sich in ihre Zimmer zurückzogen. Punkt elf war niemand mehr auf dem Korridor unterwegs, und im ganzen Haus brannte nur noch ein einziges Licht: Dorians Nachttischlämpchen.
Ein kühler Wind wehte durch das geöffnete Fenster ins Zimmer. Auf seinem Bett liegend, lauschte Dorian den unheimlichen Stimmen des Waldes, den Blick in der Dunkelheit verloren. Kurz vor Mitternacht löschte er das Licht und trat ans Fenster. Ein dunkles Blättermeer wogte im Wind. Dorian starrte auf das Gewimmel von Schatten, die in den Bäumen tanzten. Er konnte förmlich spüren, wie dieses Wesen durch die Dunkelheit streifte.
Jenseits des Waldes waren die gezackten Umrisse von Cravenmoore zu sehen und das golden erleuchtete Rechteck des letzten Fensters des Nordflügels. Plötzlich brach ein heller, flackernder Strahl durch die Blätter. Lichter im Wald. Eine Laterne oder eine Taschenlampe im Unterholz. Der Junge schluckte. Lichtblitze flammten auf
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