Der dunkle Wächter
sitzt du fest und ersäufst wie eine Ratte.«
Plötzlich verwandelte sich die Magie des Ortes in eine Bedrohung. Irene stellte sich vor, wie die Höhle mit eiskaltem Wasser volllief, ohne eine Möglichkeit, zu entkommen.
»Kein Grund zur Eile…«, beschwichtigte Ismael.
Ohne lange abzuwarten, schwamm Irene zum Ausgang und hielt nicht eher inne, bis die Sonne ihr wieder zulachte. Er beobachtete sie dabei und lächelte vor sich hin. Das Mädchen hatte Mut.
Die Rückfahrt verlief schweigend. Die Seiten des Tagebuchs hallten in Irenes Kopf wider wie ein Echo, das nicht verstummen wollte. Eine dichte Wolkenbank war am Himmel aufgezogen, die Sonne war verschwunden, und das Meer hatte einen bleiernen, metallischen Ton angenommen. Der Wind war kühler geworden, und Irene schlüpfte wieder in ihr Kleid. Diesmal sah Ismael kaum hin, als sie sich anzog, ein Zeichen dafür, dass der Junge seinen eigenen Gedanken nachhing, wie auch immer diese aussehen mochten.
Am späten Nachmittag umfuhr die
Kyaneos
das Kap und hielt auf das Haus der Sauvelles zu, während die Leuchtturminsel im Dunst versank. Ismael steuerte das Boot zum Anleger und vertäute es sorgfältig wie immer, obwohl man merkte, dass er mit seinen Gedanken meilenweit entfernt war.
Als der Moment des Abschieds gekommen war, ergriff Irene die Hand des Jungen.
»Danke, dass du mich in die Höhle mitgenommen hast«, sagte sie, während sie an Land sprang.
»Du bedankst dich dauernd, und ich weiß nicht, wofür… Ich danke dir, dass du mitgekommen bist.«
Irene hätte ihn zu gerne gefragt, wann sie sich wieder sehen würden, doch ein weiteres Mal riet ihr Instinkt ihr, zu schweigen. Ismael machte das Bugtau los, und die
Kyaneos
wurde von der Strömung davongetragen. Irene blieb an der steinernen Treppe stehen, die die Klippe hinaufführte, und sah zu, wie sich das Segelboot entfernte. Ein Schwarm Möwen begleitete es auf seinem Weg zu den Lichtern der Mole. Der Mond zwischen den Wolken spannte eine silbrig glitzernde Brücke über das Meer, die das Segelboot zurück zum Dorf geleitete.
Auf ihrem Weg die steinerne Treppe hinauf hatte Irene ein Lächeln auf den Lippen, das niemand sehen konnte. Dieser Junge gefiel ihr wahnsinnig gut…
Als sie ins Haus kam, merkte Irene sofort, dass etwas nicht stimmte. Alles war zu aufgeräumt, zu still, zu ruhig. Das Licht im Wohnzimmer leuchtete in der bläulichen Dämmerung dieses wolkenverhangenen Abends. Dorian saß in einem Sessel und starrte schweigend in die Flammen des Kamins. Simone stand mit dem Rücken zur Tür an dem großen Fenster in der Küche und blickte aufs Meer hinaus, eine Tasse kalten Kaffees in der Hand. Das einzige Geräusch war das Säuseln des Windes, der über das Dach strich.
Dorian und seine Schwester wechselten einen Blick. Dann ging Irene zu ihrer Mutter und legte ihr die Hand auf die Schulter. Simone Sauvelle drehte sich um. In ihren Augen standen Tränen.
»Was ist passiert, Mama?«
Ihre Mutter umarmte sie. Irene drückte die Hände ihrer Mutter. Sie waren kalt. Sie zitterten.
»Es ist wegen Hannah«, flüsterte Simone.
Langes Schweigen. Der Wind rüttelte an den Fensterläden des Hauses.
»Sie ist tot«, setzte sie hinzu.
Langsam, wie ein Kartenhaus, brach die Welt rings um Irene zusammen.
7. Ein Weg voller Schatten
Die Straße, die am Strand des Engländers entlangführte, glühte im Licht des Sonnenuntergangs und wand sich wie eine scharlachrote Schlange dem Dorf entgegen. Irene, die mit dem Fahrrad ihres Bruders unterwegs war, sah zum Haus am Kap zurück. Simones Worte und die Angst in ihren Augen, als sie gesehen hatte, wie ihre Tochter bei Sonnenuntergang überstürzt das Haus verließ, gingen ihr immer noch nach, doch der Gedanke an Ismael, der der Nachricht von Hannahs Tod entgegensegelte, war stärker als jedes schlechte Gewissen.
Simone hatte ihr erklärt, dass einige Stunden zuvor zwei Ausflügler Hannahs Leiche in der Nähe des Waldes gefunden hätten. Von diesem Moment an hatte die Nachricht Verzweiflung, Schmerz und Mutmaßungen bei allen ausgelöst, die das Glück gehabt hatten, das lebhafte Mädchen zu kennen. Man wusste, dass ihre Mutter Elisabet einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte, als sie die Nachricht erhielt, und von Doktor Giraud Beruhigungsmittel verabreicht bekam. Aber nicht viel mehr.
Gerüchte über eine frühere Verbrechensserie, die das Leben im Dorf vor Jahren erschüttert hatte, waren erneut an die Oberfläche gelangt. Einige wollten in dem
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