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Der dunkle Wächter

Der dunkle Wächter

Titel: Der dunkle Wächter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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Geschichte gefallen würde.«
    Dorian versenkte den Blick in seine Tasse. Er begriff, dass sich Lazarus diese Geschichte nur ausgedacht hatte, um ihn die Angst vor dem mechanischen Engel vergessen zu lassen. Ein guter Trick, aber eben ein Trick. Lazarus klopfte ihm sportlich auf die Schulter.
    »Ich finde, es ist ein bisschen spät geworden, um Detektiv zu spielen«, bemerkte er. »Komm, ich begleite dich nach Hause.«
    »Versprechen Sie mir, meiner Mutter nichts zu sagen?«, bat Dorian.
    »Nur wenn du mir versprichst, nicht mehr alleine bei Nacht durch den Wald zu spazieren, solange nicht geklärt ist, was mit Hannah passiert ist.«
    Die beiden sahen sich in die Augen.
    »Abgemacht«, willigte der Junge ein.
    Lazarus streckte ihm die Hand entgegen wie ein richtiger Geschäftsmann. Dann ging der Spielzeugfabrikant mit einem geheimnisvollen Lächeln zu einem Schrank und nahm ein Holzkästchen heraus. Er reichte es Dorian.
    »Was ist das?«, fragte der Junge neugierig.
    »Geheimnis. Öffne es.«
    Dorian klappte das Kästchen auf. Im Licht der Lampen kam eine silberne Figur von der Größe seiner Handfläche zum Vorschein. Dorian sah Lazarus staunend an. Der Spielzeugfabrikant lächelte.
    »Komm, ich zeige dir, wie sie funktioniert.«
    Lazarus nahm die Figur und stellte sie auf den Tisch. Auf Knopfdruck entfaltete die Figur ihre Flügel und verriet ihre wahre Natur. Ein Engel. Genau wie der, den er zuvor gesehen hatte, maßstabsgetreu.
    »In dieser Größe macht er dir keine Angst, oder?«
    Dorian schüttelte begeistert den Kopf.
    »Dann soll er dein Schutzengel sein. Um dich vor dunklen Schatten zu beschützen…«
    Lazarus begleitete Dorian durch den Wald bis zum Haus am Kap, während er ihm von den Geheimnissen und der Funktionsweise von Automaten und mechanischen Objekten erzählte, die Dorian in ihrer Vertracktheit und ihrem Einfallsreichtum an Magie zu grenzen schienen. Lazarus schien alles zu wissen und hatte selbst auf die gewieftesten und hintergründigsten Fragen eine Antwort. Man bekam ihn einfach nicht zu packen. Als sie die andere Seite des Waldes erreicht hatten, war Dorian fasziniert und stolz auf seinen neuen Freund.
    »Denk an unsere Abmachung, ja?«, flüsterte Lazarus. »Keine nächtlichen Ausflüge mehr.«
    Dorian schüttelte den Kopf und ging zum Haus. Der Spielzeugfabrikant wartete draußen und ging nicht eher, bis der Junge in seinem Zimmer war und ihm vom Fenster aus zuwinkte. Lazarus winkte zurück und verschwand dann wieder in der Dunkelheit des Waldes.
    Als Dorian im Bett lag, hatte er immer noch ein Lächeln auf dem Gesicht. All seine Sorgen und Ängste schienen sich in Luft aufgelöst zu haben. Beschwingt öffnete der Junge das Kästchen und nahm den mechanischen Engel heraus, den Lazarus ihm geschenkt hatte. Es war eine perfekte Arbeit von außergewöhnlicher Schönheit. Der komplizierte Mechanismus verriet eine geheimnisvolle, fesselnde Wissenschaft. Dorian stellte die Figur auf den Fußboden vor seinem Bett und löschte das Licht. Lazarus war ein Genie. Das war das richtige Wort. Dorian hatte es Hunderte Male gehört und war jedes Mal erstaunt, dass es so oft verwendet wurde, wo es doch in Wahrheit in keinem der Fälle auf den so Bezeichneten passte. Am Ende hatte er doch ein wahres Genie kennengelernt. Und außerdem war er sein Freund.
    Die Begeisterung machte einer unüberwindlichen Schläfrigkeit Platz. Dorian überließ sich der Müdigkeit, und seine Gedanken trieben einem Abenteuer entgegen, in dem er als Lazarus’ Nachfolger eine Maschine erfand, die Schatten fing und die Welt von einer finsteren, verbrecherischen Vereinigung befreite.
    Dorian schlief schon, als die Figur ohne jede Vorankündigung langsam ihre Flügel auszubreiten begann. Der metallene Engel wackelte mit dem Kopf und hob einen Arm. Seine schwarzen Augen glänzten in der Dunkelheit wie zwei Tränen aus Obsidian.

8. Inkognito
    Drei Tage vergingen, ohne dass Irene etwas von Ismael hörte. Im Dorf war keine Spur von dem Jungen zu sehen, und sein Segelboot lag nicht an der Mole. Eine Sturmfront fegte über die Küste der Normandie hinweg und breitete ein aschgraues Tuch über die Bucht, das sich fast eine Woche halten sollte.
    Die Straßen des Dorfes lagen schläfrig unterm Nieselregen, als Hannah ihre letzte Reise auf den kleinen Friedhof antrat, der auf einer Anhöhe nordöstlich von Baie Bleue lag. Die Prozession hielt am Tor des Gottesackers, denn auf ausdrücklichen Wunsch der Familie fand die Aussegnung im

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