Der dunkle Wächter
Kreaturen bevölkert waren. Eine ging in die nächste über, einen Ozean aus Hieroglyphen bildend, deren Bedeutung ihr vollständig verborgen blieb. Als Irene die Tür am Ende des Flurs erreichte, war sie bereits zu der Überzeugung gelangt, dass Hannah unmöglich ein Zimmer in diesem Trakt bewohnt haben konnte. Doch die Anziehungskraft dieses Ortes war stärker als die unheimliche Aura des Verbotenen, die von ihm ausging. Eine intensive Präsenz schien in der Luft zu liegen. Eine fast greifbare Präsenz.
Irene spürte, wie ihr Puls raste. Sie legte ihre zitternde Hand auf den Türknauf. Etwas hielt sie zurück. Eine Vorahnung. Noch war Zeit, umzukehren, zu Ismael zurückzugehen und das Haus zu verlassen, bevor Lazarus ihr Eindringen bemerkte. Der Türknauf drehte sich sachte unter ihren Fingern, glitt an ihrer Haut entlang. Irene schloss die Augen. Es gab keinen Grund, dort hineinzugehen. Sie brauchte nur umzukehren. Es gab keinen Grund, dieser unwirklichen, traumhaften Aura nachzugeben, die ihr einflüsterte, die Tür zu öffnen und unwiderruflich die Schwelle zu übertreten. Das Mädchen öffnete die Augen.
Der Korridor wies den Weg zurück durch die Dunkelheit. Irene seufzte, und ihr Blick blieb an den Lichtschlieren hängen, die über den Gazevorhang huschten. In diesem Moment zeichnete sich eine dunkle Gestalt hinter dem Vorhang ab und blieb auf der anderen Seite stehen.
»Ismael?«, flüsterte Irene.
Die Gestalt verharrte einige Sekunden reglos, dann zog sie sich lautlos in die Dunkelheit zurück.
»Ismael, bist du’s?«, fragte sie noch einmal.
Das langsame Gift der Panik begann sich in ihre Adern zu schleichen. Ohne den Blick von jenem Punkt abzuwenden, öffnete sie die Tür zu dem Zimmer, schlüpfte hinein und schloss sie wieder hinter sich. Für einen Moment wurde sie von dem saphirblauen Licht geblendet, das durch die hohen, schmalen Fenster drang. Als sich ihre Augen an die schillernde Helligkeit im Zimmer gewöhnt hatten, gelang es ihr, mit zitternden Händen eines der Streichhölzer zu entzünden, die Ismael ihr überlassen hatte. Im rötlichen Schein der Flamme wurde ein feudaler Salon sichtbar, dessen Luxus und Pracht einem Märchenbuch zu entstammen schienen.
Der überbordende Stuck der Decke lief in der Zimmermitte zu einem barocken Strudel zusammen. Am anderen Ende des Raumes stand ein kostbares Himmelbett mit langen, goldfarbenen Vorhängen. In der Mitte des Zimmers befand sich ein Marmortisch mit einem großen Schachspiel darauf, dessen Figuren aus Kristall geschliffen waren. Am anderen Ende des Raumes entdeckte Irene eine weitere Lichtquelle, die zu der unwirklichen Atmosphäre beitrug: der tiefe Rachen eines Kamins, in dem dicke Holzscheite glühten. Darüber hing ein großes Porträt. Ein blasses Antlitz mit den feinsten Gesichtszügen, die man sich vorstellen konnte, umrahmte die unergründlichen, traurigen Augen einer hinreißend schönen Frau. Die Dame auf dem Bild trug ein langes weißes Kleid, und im Hintergrund sah man die Leuchtturminsel in der Bucht liegen.
Irene ging langsam auf das Gemälde zu, wobei sie das brennende Streichholz hochhielt, bis die Flamme ihr die Finger verbrannte. Als sie die Wunde ableckte, sah sie einen Kerzenleuchter auf einem Schreibtisch stehen. Sie brauchte ihn nicht unbedingt, aber sie entzündete dennoch mit einem weiteren Streichholz die Kerze. Die Flamme verbreitete einen hellen Schein ringsum. Auf dem Schreibtisch lag ein ledergebundenes Buch. Es war in der Mitte aufgeschlagen.
Irene erkannte die so vertraute Handschrift auf dem pergamentartigen Papier wieder, bedeckt von einer Staubschicht, die es fast unmöglich machte, die Seiten zu lesen. Das Mädchen pustete vorsichtig, und eine Wolke aus Tausenden glitzernder Teilchen breitete sich auf dem Tisch aus. Sie nahm das Buch zur Hand und blätterte, bis sie auf der ersten Seite angelangt war. Sie hielt das Buch ans Licht und las die silbergeprägten Buchstaben. Während ihr Verstand allmählich erfasste, was das alles bedeutete, setzte sich langsam das Grauen in ihrem Nacken fest wie eine eisige Nadel.
Alexandra Alma Maltisse
Lazarus Joseph Jann
1915
Ein brennendes Holzscheit knackte im Feuer und versprühte kleine Funken, die auf dem Boden verglommen. Irene schloss das Buch und legte es auf den Tisch. In diesem Moment bemerkte sie, dass sie jemand vom anderen Ende des Zimmers durch den Vorhang des Himmelbetts beobachtete. Eine zierliche Gestalt lag auf dem Bett. Eine Frau. Irene
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