Der dunkle Wächter
Schritte gegangen, als der Engel ihr das Gesicht zuwandte wie ein geduldig lauerndes Raubtier. Irene hatte das Gefühl, am Boden festgenagelt zu sein.
»Sieh ihn nicht an und geh weiter«, befahl Ismael, während er unaufhörlich mit dem Holzscheit vor dem Engel herumfuchtelte.
Irene machte einen weiteren Schritt vorwärts. Das Geschöpf folgte ihr mit dem Kopf, und das Mädchen begann zu schluchzen.
Ismael nutzte die Ablenkung und zog dem Engel das Holzstück über den Kopf. Der Aufprall ließ glühende Funken regnen. Bevor er das Holzscheit wieder zurückziehen konnte, packte eine Pranke das Holz, und fünf Zentimeter lange Krallen, scharf wie Jagdmesser, zerfetzten es vor seinen Augen zu Spänen. Der Engel machte einen Schritt auf Ismael zu. Der Junge spürte, wie der Fußboden unter dem Gewicht seines Widersachers vibrierte.
»Du bist nur eine verdammte Maschine. Ein verdammter Haufen Blech…« murmelte er, während er den schrecklichen Anblick der scharlachroten Augen zu verdrängen versuchte, die unter der Kapuze des Engels hervorblitzten.
Die dämonischen Pupillen der Gestalt verengten sich langsam zu blutroten Schlitzen in kohlenschwarzer Hornhaut, bis sie an die Augen einer großen Raubkatze erinnerten. Der Engel machte einen weiteren Schritt auf ihn zu. Ismael warf einen raschen Blick zur Tür. Es waren mehr als acht Meter bis dorthin. Für ihn gab es kein Entkommen, für Irene hingegen schon.
»Wenn ich es dir sage, rennst du zur Tür und bleibst nicht eher stehen, bis du aus dem Haus heraus bist.«
»Was redest du da?«
»Keine Diskussionen jetzt«, befahl Ismael, ohne den Blick von dem Wesen abzuwenden. »Lauf!«
Der Junge überschlug gerade, wie lange er brauchen würde, um zum Fenster zu gelangen und zu versuchen, über die Gesimse der Fassade zu entkommen, als das Unerwartete geschah. Statt zur Tür zu rennen und zu fliehen, packte Irene ein brennendes Holzscheit aus dem Kamin und stellte sich dem Engel gegenüber.
»Sieh mich an, du Ungeheuer«, brüllte sie und setzte mit dem flackernden Holzstück den Umhang des Engels in Brand. Der Schatten, der sich in seinem Inneren verbarg, ließ einen wütenden Schrei los.
Entsetzt warf sich Ismael auf Irene und riss sie gerade noch rechtzeitig zu Boden, bevor die messerscharfen Krallen sie in der Luft zerfetzen konnten. Der Umhang des Engels ging in Flammen auf, und die riesige Gestalt verwandelte sich in eine Feuerspirale. Ismael packte Irene am Arm und zog sie hoch. Gemeinsam versuchten sie zum Ausgang zu laufen, doch der Engel stellte sich ihnen in den Weg, nachdem er sich von dem lichterloh brennenden Umhang befreit hatte, der ihn verhüllte. Ein Gerippe aus geschwärztem Stahl kam unter den Flammen zum Vorschein.
In Erwartung weiterer sinnloser Heldentaten ließ Ismael das Mädchen keine Sekunde los, zog sie zum Fenster und warf einen Sessel in die Scheibe. Ein Scherbenregen prasselte herunter, und der kalte Nachtwind wehte die Vorhänge bis an die Decke. Sie hörten die Schritte des Engels hinter sich.
»Schnell! Spring auf den Mauervorsprung!«, schrie der Junge.
»Was?«, wimmerte Irene ungläubig.
Ohne lange zu zögern, drängte er sie nach draußen. Das Mädchen taumelte durch das klaffende Loch in der Scheibe und sah sich einem Abgrund von fast vierzig Metern gegenüber. Ihr blieb beinahe das Herz stehen, überzeugt, dass sie in Sekundenbruchteilen in die Tiefe stürzen werde. Doch Ismael lockerte seinen Griff keinen Millimeter und zog sie mit Schwung wieder auf das schmale Sims, das an der Fassade entlanglief wie ein Laufgang in den Wolken. Dann kletterte er hinterher und schob sie vorwärts. Der Wind kühlte den Schweiß, der ihm übers Gesicht rann.
»Schau nicht nach unten!«, brüllte er.
Sie waren noch nicht weit gekommen, als in dem Fenster hinter ihnen die Klaue des Engels erschien; seine Krallen fegten einen Schauer aus Glasscherben auf den Stein und hinterließen vier tiefe Scharten in den Quadern. Irene schrie auf, als sie spürte, dass ihre Füße auf dem Sims zitterten und ihr Körper gefährlich auf den Abgrund zuzuwanken schien.
»Ich kann nicht weitergehen, Ismael«, verkündete sie. »Wenn ich noch einen Schritt mache, werde ich fallen.«
»Du kannst. Und du wirst. Los«, nötigte er sie und umklammerte ihre Hand. »Wenn du fällst, fallen wir beide.«
Das Mädchen versuchte zu lächeln. Plötzlich zerbarst ein paar Meter vor ihnen ein Fenster und Tausende Glassplitter wurden nach außen geschleudert. Die
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