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Der dunkle Wächter

Der dunkle Wächter

Titel: Der dunkle Wächter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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trat einige Schritte auf sie zu. Die Frau hob eine Hand.
    »Alma?«, wisperte Irene, erschreckt über den Klang ihrer eigenen Stimme.
    Sie ging bis zum Bett und blieb auf der anderen Seite der Vorhänge stehen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und ihr Atem ging stoßweise. Langsam zog sie die Vorhänge beiseite. Im gleichen Augenblick wehte ein eisiger Lufthauch durchs Zimmer und ließ die Kerzen flackern. Irene blickte zur Tür. Ein Schatten breitete sich auf dem Boden aus wie ein großer Tintenfleck, der unter der Tür hindurchsickerte. Ein gespenstisches Geräusch, eine ferne, hasserfüllte Stimme schien etwas aus der Dunkelheit zu flüstern.
    Im nächsten Augenblick flog die Tür mit gewaltiger Kraft auf und schlug innen ins Zimmer, wobei sie beinahe die Angeln aus der Wand riss, die sie hielten. Als eine Hand mit langen, messerscharfen stählernen Klauen aus der Dunkelheit auftauchte, schrie Irene, so laut sie konnte.
     
    Ismael begann zu vermuten, dass ihm bei der Lagebestimmung von Hannahs Zimmer ein Fehler unterlaufen war. Als sie ihm das Haus beschrieben hatte, hatte sich der Junge seinen eigenen Plan von Cravenmoore gemacht. Doch einmal in seinem Inneren, kam ihm der labyrinthähnliche Aufbau des Anwesens undurchschaubar vor. Alle Zimmer in dem Flügel, den er erkunden wollte, waren fest verschlossen. Kein einziges Schloss hatte bei seinen Versuchen nachgegeben, und die Uhr schien angesichts seines völligen Scheiterns keinerlei Erbarmen mit ihm zu haben.
    Die vereinbarten fünfzehn Minuten waren ergebnislos verstrichen, und die Vorstellung, die Suche für diese Nacht abzubrechen, erschien ihm verlockend. Ein Blick auf das düstere Innenleben bot ihm tausenderlei Vorwände, von hier zu verschwinden. Sein Entschluss, das Haus zu verlassen, stand bereits fest, als er Irenes Schrei hörte, kaum mehr als ein dünnes Stimmchen, das von irgendeinem entfernten Ort durch die Dunkelheit von Cravenmoore hallte. Das Echo breitete sich in verschiedene Richtungen aus. Ismael spürte, wie ihm das Adrenalin in die Adern schoss, und er rannte zum anderen Ende des endlosen Korridors, so schnell ihn seine Beine trugen.
    Er hatte kaum einen Blick für den unheimlichen, von dunklen Schemen bevölkerten Tunnel, der an ihm vorbeizog. Er lief unter dem gebrochenen Licht der Kuppellaterne hindurch und ließ die Abzweigungen zu den Gängen rings um die zentrale Treppe hinter sich. Das Muster der Bodenfliesen schien sich unter seinen Füßen auszudehnen, und die schwindelerregende Flucht des Korridors wurde vor seinen Augen immer länger, als dehnte er sich ins Endlose aus.
    Erneut waren Irenes Schreie zu hören, näher diesmal. Ismael durchquerte den durchsichtigen Vorhang und entdeckte schließlich das Zimmer am Ende des Westflügels. Ohne lange zu überlegen, stürzte der Junge hinein, ohne zu wissen, was ihn dort erwartete.
    Im Widerschein des Feuers, das im Kamin knisterte, erkannte er undeutlich ein riesiges Zimmer. Irenes Silhouette, die sich vor einem großen, in blaues Licht getauchten Fenster abzeichnete, beruhigte ihn zunächst, doch dann sah er das blanke Entsetzen in den Augen des Mädchens. Ismael drehte sich instinktiv um, und das, was er dort vor sich sah, vernebelte ihm den Verstand, lähmte ihn wie der hypnotisierende Tanz einer Schlange.
    Aus der Dunkelheit löste sich eine gewaltige Gestalt und breitete zwei große, schwarze Schwingen aus. Wie eine Fledermaus. Oder ein Dämon.
    Der Engel streckte seine langen Arme aus, die in spitzen Klauen mit langen, schwarzen Fingern ausliefen. Die stählernen Klingen seiner Nägel blitzten vor seinem unter einer Kapuze verborgenen Gesicht.
    Ismael wich einen Schritt in Richtung Feuer zurück, und der Engel sah auf, offenbarte im Schein der Flammen seine Gesichtszüge. Diese unheimliche Gestalt war mehr als nur eine Maschine. Etwas hatte sich in ihr Inneres zurückgezogen und verwandelte sie in eine teuflische Marionette, ein greifbares, bösartiges Wesen. Der Junge riss sich zusammen, um nicht die Augen zu schließen, und packte das Ende eines halb verkohlten Holzscheits. Das brennende Holzscheit vor dem Engel hin und her schwenkend, deutete er zur Zimmertür.
    »Geh langsam zur Tür«, flüsterte er Irene zu.
    Das Mädchen, vor Angst wie gelähmt, reagierte nicht auf seine Worte.
    »Tu, was ich dir sage«, befahl Ismael energisch.
    Der Ton seiner Stimme riss Irene aus ihrer Erstarrung. Sie nickte zitternd und machte sich auf den Weg in Richtung Tür. Sie war kaum zwei

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