Der dunkle Wächter
durch den Eingang der Höhle.
Ismael atmete auf und brachte Irene zu einem kleinen Felsen, der aus dem Wasser ragte und gerade genügend Platz für sie beide bot. Er hievte sie auf den Stein und schlang die Arme um sie. Sie zitterten vor Kälte und waren verletzt, aber für einige Minuten lagen sie einfach nur still da und atmeten tief durch. Irgendwann merkte Ismael, dass das Wasser wieder ihre Füße berührte, und er begriff, dass die Flut kam. Nicht dieses Wesen, das sie verfolgte, war in die Falle gegangen, sondern sie selbst…
Der Schatten hatte sie einem langsamen, schrecklichen Tod überlassen.
10. In der Falle
Das Meer brach sich donnernd am Eingang der Fledermausgrotte. Die kalte Strömung aus der Schwarzen Bucht floss gurgelnd in die Rinnen im Fels, ein beängstigendes Geräusch, das in der in Dunkelheit getauchten Grotte widerhallte. Über ihnen war in unerreichbarer Ferne die Öffnung im Fels zu sehen, die an das Auge einer Kuppel erinnerte. In wenigen Minuten war der Wasserstand um mehrere Zentimeter gestiegen. Irene stellte bald fest, dass die Felsfläche, auf der sie wie Schiffbrüchige kauerten, immer kleiner wurde. Millimeter für Millimeter.
»Die Flut kommt«, murmelte sie.
Ismael nickte nur niedergeschlagen.
»Was wird jetzt mit uns geschehen?«, fragte sie, auch wenn sie die Antwort erahnte. Aber sie hoffte, der Junge, der doch immer für eine Überraschung gut war, werde im letzten Augenblick irgendeinen Trumpf aus dem Ärmel schütteln.
Er warf ihr einen düsteren Blick zu, der Irenes Hoffnungen augenblicklich zunichte machte.
»Wenn das Wasser steigt, versperrt es den Höhleneingang«, erklärte Ismael. »Und dann bleibt kein anderer Ausweg mehr als die Öffnung in der Höhlendecke, aber die ist von hier aus unerreichbar.«
Er machte eine Pause, und sein Gesicht versank in der Dunkelheit.
»Wir sitzen in der Falle, draußen ist die Strömung zu stark«, sagte er schließlich.
Die Vorstellung der langsam ansteigenden Flut, die sie in einem dunklen, kalten Alptraum wie Ratten ertränkte, ließ Irene das Blut in den Adern gefrieren. Auf ihrer Flucht vor dem mechanischen Ungeheuer hatte die Aufregung so viel Adrenalin in ihre Adern gepumpt, dass sie nicht mehr klar denken konnte. Während sie nun in der Dunkelheit vor Kälte zitterte, kam ihr die Aussicht auf einen langsamen Tod unerträglich vor.
»Es muss doch einen Weg geben, hier herauszukommen«, wandte sie ein.
»Nein, gibt es nicht.«
»Und was machen wir jetzt?«
»Fürs Erste, abwarten…«
Irene begriff, dass sie den Jungen auf der Suche nach Antworten nicht weiter bedrängen durfte. Wahrscheinlich stand er, der die Gefahren der Höhle kannte, größere Ängste aus als sie. Und recht betrachtet, konnte ihnen ein Themenwechsel nicht schaden.
»Noch etwas…«, begann sie. »In Cravenmoore… Als ich in dieses Zimmer kam, habe ich dort etwas gesehen. Etwas über Alma Maltisse…«
Ismael warf ihr einen unergründlichen Blick zu.
»Ich glaube… Ich glaube, Alma Maltisse und Alexandra Jann sind ein und dieselbe Person. Alma Maltisse war Alexandras Mädchenname, bevor sie Lazarus heiratete«, erklärte Irene.
»Das ist unmöglich. Alma Maltisse ist vor Jahren vor der Leuchtturminsel ertrunken«, wandte Ismael ein.
»Aber ihre Leiche wurde nie gefunden…«
»Es ist unmöglich«, beharrte der Junge.
»Als ich in diesem Zimmer war, habe ich ein Bild von ihr gesehen… Und da lag jemand im Bett. Eine Frau.«
Ismael rieb sich die Augen und versuchte seine Gedanken zu ordnen.
»Einen Moment. Mal angenommen, du hättest recht. Mal angenommen, Alma Maltisse und Alexandra Jann wären ein und dieselbe Person. Wer ist dann die Frau, die du auf Cravenmoore gesehen hast? Wer ist die Frau, die all diese Jahre unter der Identität von Lazarus’ kranker Frau dort gelebt hat?«, fragte er.
»Ich weiß es nicht. Je mehr wir über diese Sache herausfinden, desto weniger verstehe ich«, sagte Irene. »Und da ist noch etwas, das mich beschäftigt. Was hat diese Figur zu bedeuten, die wir in der Spielzeugfabrik gesehen haben? Es war eine Nachbildung meiner Mutter. Schon bei dem Gedanken stehen mir die Haare zu Berge. Lazarus baut eine Puppe mit dem Gesicht meiner Mutter…«
Eiskaltes Wasser umspülte ihre Knöchel. Seit sie dort saßen, war der Meeresspiegel mindestens eine Handbreit angestiegen. Die beiden wechselten einen erschreckten Blick. Das Meer donnerte erneut, und ein Wasserschwall schwappte in den Höhleneingang. Es
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