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Der dunkle Wächter

Der dunkle Wächter

Titel: Der dunkle Wächter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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meines schlechten Gewissens mir einflüsterte, dass dieser Schatten existierte, dem die Krankheit meiner Mutter ein Tor aus der Hölle geöffnet hatte. Ich vergaß diesen Alptraum, der mich jahrelang verfolgte… Darin hatte eine Treppe aus der Tiefe des Kellers in der Rue des Gobelins in die Unterwelt des Styx hinabgeführt. Das alles war Vergangenheit. Und wissen Sie, warum? Weil Alexandra Alma Maltisse, der wahre Engel meines Lebens, mir beibrachte, dass ich kein schlechter Mensch war, anders als meine Mutter mir immer wieder eingeredet hatte, seit ich denken konnte. Verstehen Sie, Simone? Ich war kein schlechter Mensch. Ich war wie alle anderen. Ich war unschuldig.«
    Lazarus’ Stimme verstummte. Simone stellte sich vor, wie stille Tränen unter der Maske hervortropften.
    »Gemeinsam erkundeten wir Cravenmoore. Viele denken, all die wundersamen Dinge, die es in diesem Haus gibt, seien mein Werk. Das stimmt nicht. Ich habe nur einen kleinen Teil davon erschaffen. Der Rest, endlose Galerien voller Meisterwerke, die nicht einmal ich durchschaue, war schon hier, als ich das Haus zum ersten Mal betrat. Ich werde nie erfahren, wie lange diese Dinge sich schon in diesem Haus befanden. Es gab eine Zeit, in der ich dachte, dass vor mir bereits andere an meiner Stelle gewesen waren. Manchmal, wenn ich schweigend in die Nacht lausche, glaube ich das Echo fremder Stimmen, fremder Schritte zu hören, die durch die Flure dieses Palasts hallen. Dann wieder denke ich, dass in all diesen Zimmern, in all diesen leeren Korridoren die Zeit stehen geblieben ist und die Geschöpfe, die diesen Ort bevölkern, einmal aus Fleisch und Blut gewesen sind. Wie ich.
    Ich habe vor langer Zeit aufgehört, über diese Geheimnisse nachzugrübeln, selbst als ich nach Monaten auf Cravenmoore immer noch neue Zimmer entdeckte, in denen ich noch nie gewesen war, neue Gänge, die zu unbekannten Flügeln führten… Ich glaube, manche Orte– uralte Paläste, die man an einer Hand abzählen kann– sind viel mehr als nur Gebäude. Sie leben. Sie haben eine Seele und ihre eigene Art, zu uns zu sprechen. Cravenmoore ist einer dieser Orte. Niemand weiß, wann es erbaut wurde, noch von wem und wozu. Aber wenn dieses Haus zu mir spricht, höre ich zu…
    Im Frühsommer des Jahres 1916, auf dem Gipfel unseres Glücks, geschah etwas. Eigentlich hatte das Schicksal schon ein Jahr zuvor seinen Lauf genommen, ohne dass ich etwas davon erfuhr. Am Tag nach unserer Hochzeit stand Alexandra frühmorgens auf und ging in den großen ovalen Salon, um die vielen hundert Geschenke in Augenschein zu nehmen, die wir erhalten hatten. Dabei fiel ihr Blick auf eine kleine, handgearbeitete Schatulle. Ein wahres Schmuckstück. Fasziniert öffnete Alexandra sie. Sie enthielt ein Kärtchen und einen Kristallflakon. In dem Kärtchen, das an sie gerichtet war, hieß es, dies sei ein ganz besonderes Geschenk. Eine Überraschung. Der Flakon enthalte mein Lieblingsparfüm, den Duft, den meine Mutter benutzt habe. Sie solle es bis zu unserem ersten Hochzeitstag verwahren, bevor sie es auftrage. Doch das müsse ein Geheimnis zwischen ihr und dem Unterzeichnenden bleiben, einem alten Freund aus Kindertagen, Daniel Hoffmann…
    Alexandra hielt sich getreulich an die Anweisungen, in der Überzeugung, dass sie mich damit glücklich mache, und bewahrte den Flakon zwölf Monate bis zu dem angegebenen Datum auf. Als der Tag gekommen war, nahm sie ihn aus der Schatulle und öffnete ihn. Unnötig zu sagen, dass dieser Flakon kein Parfüm enthielt. Es war der Flakon, den ich am Vorabend unserer Hochzeit ins Meer geworfen hatte. Von dem Moment an, als Alexandra den Flakon öffnete, verwandelte sich unser Leben in einen Alptraum…
    Zu diesem Zeitpunkt begann ich die Briefe von Daniel Hoffmann zu erhalten. Nun schrieb er mir aus Berlin, wo er, so erklärte er mir, vor einer großen Aufgabe stehe, die eines Tages die Welt verändern werde. Millionen Kinder bedenke er bei seinen Besuchen mit Geschenken. Millionen Kinder, die eines Tages die größte Armee bilden würden, die es je in der Geschichte gegeben habe. Bis heute habe ich nicht begriffen, was er damit sagen wollte…
    Einem seiner ersten Schreiben lag ein uraltes, in Leder gebundenes Buch bei. Auf dem Einband stand ein einziges Wort:
Doppelgänger.
Haben Sie schon einmal vom Doppelgänger gehört, meine liebe Freundin? Natürlich nicht. Legenden und alte Magie interessieren niemanden mehr. Es ist ein Begriff deutschen Ursprungs; er

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