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Der dunkle Wächter

Der dunkle Wächter

Titel: Der dunkle Wächter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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bezeichnet den Schatten, der sich von seinem Besitzer löst und sich gegen diesen wendet. Aber das ist natürlich nur der Anfang. Und so war es auch für mich. Zu Ihrer Information sei gesagt, dass es sich bei dem Band im Wesentlichen um ein Lehrbuch über Schatten handelte. Eine Rarität. Als ich anfing, darin zu lesen, war es schon zu spät. Etwas wuchs, in der Dunkelheit dieses Hauses verborgen, heran; Monat um Monat, wie eine Schlange, die auf den Moment wartet, um aus ihrem Ei zu schlüpfen.
    Im Mai 1916 geschah etwas mit mir. Das Leuchten dieses ersten Jahres mit Alexandra erlosch langsam. Wenig später begann ich die Anwesenheit des Schattens zu erahnen. Doch als ich es tat, war es bereits zu spät. Bei den ersten Angriffen kamen wir noch mit einem Schrecken davon. Alexandras Kleider wurden zerfetzt. Türen schlugen zu, wenn sie vorüberging, und unsichtbare Hände warfen Gegenstände nach ihr. Stimmen in der Dunkelheit. Es war erst der Anfang…
    In diesem Haus gibt es Tausende von Winkeln, in denen sich ein Schatten verstecken kann. Mir wurde klar, dass er nichts anderes war als die Seele seines Schöpfers, Daniel Hoffmann, und dass der Schatten immer weiter wachsen und mit jedem Tag stärker werden würde. Ich hingegen würde immer schwächer werden. Alle Kraft, die in mir war, würde auf ihn übergehen, und langsam würde ich der Schatten werden und er der Gebieter, während ich in die Finsternis meiner Kindheit in Les Gobelins zurückkehrte.
    Ich beschloss, die Spielzeugfabrik zu schließen und mich auf mein altes Steckenpferd zu konzentrieren. Ich wollte Gabriel wieder zum Leben erwecken, jenen Schutzengel, der in Paris über mich gewacht hatte. Auf meinem Weg zurück in die Kindheit glaubte ich, wenn es mir gelänge, ihn wieder zum Leben zu erwecken, werde er Alexandra und mich vor dem Schatten beschützen. So entwarf ich das gewaltigste mechanische Geschöpf, das ich je ersonnen hatte. Einen stählernen Koloss. Einen Engel, um mich von meinem Alptraum zu befreien.
    Was war ich naiv! Kaum war dieses Monstrum in der Lage, sich von meinem Werktisch zu erheben, als jede Phantasie von Gehorsam, die ich gehegt haben mochte, zerplatzte. Nicht auf mich hörte es, sondern auf den anderen. Seinen Gebieter. Und er, der Schatten, konnte ohne mich nicht existieren, denn ich war die Quelle, aus der er seine ganze Kraft sog. Nicht nur, dass mich der Engel nicht aus diesem elenden Leben befreite, er wurde zum schlimmsten aller Wächter. Dem Wächter dieses schrecklichen Geheimnisses, das mich für immer verdammte, einem Wächter, der jedes Mal erwachen würde, wenn etwas oder jemand dieses Geheimnis in Gefahr brachte. Erbarmungslos.
    Die Angriffe auf Alexandra wurden schlimmer. Der Schatten war jetzt stärker, und die Bedrohung wuchs mit jedem Tag. Er hatte beschlossen, mich zu bestrafen, indem er meine Frau leiden ließ. Ich hatte Alexandra mein Herz geschenkt, das mir nicht mehr gehörte. Diese Verfehlung sollte unser Verderben sein. Als ich kurz davor war, den Verstand zu verlieren, fiel mir auf, dass der Schatten nur aktiv wurde, wenn ich in der Nähe war. Er konnte nicht fern von mir leben. Deshalb beschloss ich, Cravenmoore zu verlassen und mich auf die Leuchtturminsel zurückzuziehen. Dort konnte er niemandem schaden. Wenn jemand den Preis für meinen Verrat zu zahlen hatte, dann war das ich. Aber ich unterschätzte Alexandras Willensstärke. Ihre Liebe zu mir. Sie ließ ihre Angst und die Gefahr für ihr Leben außer acht und machte sich in der Nacht des Maskenballs auf den Weg, um mir beizustehen. Das Boot, mit dem sie die Bucht durchquerte, hatte sich kaum der Insel genähert, als der Schatten über sie herfiel und sie in die Tiefe zog. Ich kann noch immer sein Gelächter in der Dunkelheit hören, als er aus den Wellen auftauchte. Am nächsten Tag zog er sich wieder in den Kristallflakon zurück. Die nächsten zwanzig Jahre bekam ich ihn nicht wieder zu Gesicht…«
    Simone erhob sich zitternd aus ihrem Sessel und wich Schritt für Schritt zurück, bis sie mit dem Rücken an der Wand stand. Sie wollte kein einziges Wort mehr aus dem Mund dieses Mannes hören, dieses… Geisteskranken. Nur eines hielt sie aufrecht und hinderte sie daran, sich der Panik hinzugeben, die dieser Maskierte in ihr auslöste, nachdem sie seine Geschichte gehört hatte: der Zorn.
    »Nein, meine Liebe, nicht doch. Machen Sie diesen Fehler nicht… Begreifen Sie nicht, was hier vorgeht? Als Sie mit Ihrer Familie hierherkamen, konnte

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