0190 - Ein Gangster starb im Niemandsland
»Sie haben schon schlimmer ausgesehen, Cotton«, brummte der Doktor, als er mich verarztet hatte.
So ein Medizinmann hat manchmal überraschende Ansichten. Ich war in einen Kanalschacht gefallen, John Ratcliff, der sich John Dillinger Nr. 2 nannte, hatte mich als Fußabtreter benutzt, mich tagelang gefangen gehalten, meinen Schädel mit Fäusten und Pistolenläufen bearbeitet, und zum guten Schluss war ich durch ein geschlossenes Fenster gesprungen.
Dillinger Nr. 2 lag im Leichenschauhaus. Ein Loch in der Stirn war sein Ende, und die Mitglieder seiner Gang saßen hinter Gittern und sahen äußerst besorgt ihrem Prozess entgegen.
Bis auf einen! Tony Samless, Dillingers leibhaftigen Vetter, der sich Babyface nannte. Schon rein äußerlich passte das zu ihm wie ein maßgeschneiderter Anzug. Er hatte ein glattes, hübsches Kindergesicht wie der echte Nelson, war wie sein Vorbild knapp mittelgroß und bösartig wie eine tollwütige Wildkatze.
Der Richter verordnete eine Untersuchung auf seinen Geisteszustand. Babyface wurde in eine Klinik gebracht, wo er untersucht werden sollte.
Es wurde nie restlos geklärt, wie der Gangster es schaffte, aus der Klinik zu türmen. Die Beamten, die ihn hingebracht hatten, wurden zwar zur Strafe in eine Landgemeinde versetzt, wo sie sich in Zukunft mit Apfeldiebstählen befassen konnten, aber über die eigentlichen Vorgänge wussten sie nichts zu sagen. Sie hatten vor der Tür des Untersuchungszimmers gewartet.
Über Nelsons weiteren Fluchtweg bestanden Meinungsverschiedenheiten. Die einen waren der Ansicht, er sei an der Außenwand der Klinik hinuntergeturnt, die anderen meinten, er habe den Schacht des Wäscheaufzuges benutzt. Eine hastige Nachsuche im Klinikgelände blieb ohne Erfolg. Nur zwei Tage, bevor »John Dillinger Nr. 2« endgültig die Fahrkarte für eine Reise bekam, von der es garantiert keine Rückkehr gibt, gelang Babyface Nelson Nr. 2 noch einmal die Rückkehr in die Freiheit.
Mich ging die Sache wenig an. Ich lag zu Hause auf der Couch und schonte meinen Schädel. Jeden Mittag kam der Doktor, und jeden Abend kam mein Freund Phil.
»Habt ihr ihn?«, erkundigte ich mich gewöhnlich.
»Nein«, antwortete Phil und ging in die Küche, um ein paar Spiegeleier für sich und mich zu braten.
***
Fast eine Woche lang ging es so.
»Er ist wie vom Erdboden verschluckt«, stellte Phil fest.
Ich kann nicht behaupten, dass es mich besonders interessierte. Im Grunde genommen ist es eine langweilige Angelegenheit, einen Mann zu jagen, über den man alles weiß. Aber eines schönen Morgens fand ich einen Brief bei meiner Post, und als ich ihn gelesen hatte, interessierte mich Babyface Nelson Nr. 2 wieder.
Der Brief bestand aus einem der billigen, zusammenfaltbaren Umschläge, wie man sie in jedem Postamt gegen fünf Cents aus einem Automaten ziehen kann. Er war von ungelenker Hand beschrieben, und der Text lautete:
Dich schicke ich als ersten in die Hölle, G-man! - Babyface!
Ich zuckte die Achseln und rief das Hauptquartier an.
»Babyface hat mir einen Brief geschrieben«, sagte ich. »Holt ihn euch ab und seht zu, ob ihr etwas damit anfangen könnt.«
Aber während ich auf den Boten des FBI wartete, begann ich zu überlegen, warum Nelsons erstes aktives Handeln darin bestand, mir zu drohen.
Als der Arzt am Mittag kam, fragte ich ihn, ob ich wieder soweit okay sei, dass ich den Dienst aufnehmen könnte.
»Klar, Cotton«, knurrte er. »Ihr Burschen faulenzt ohnedies zu viel herum. Jeden Ratscher nehmt ihr als Grund, vier Wochen auf Staatskosten auf der faulen Haut zu liegen.«
»In Ordnung, Doc«, antwortete ich leicht beleidigt. »Das war genau, was ich hören wollte.«
***
Am Nachmittag fuhr ich mit einem Taxi ins Hauptquartier. Den Jaguar hatte sich Phil mit der Behauptung unter den Nagel gerissen, für mich tauge im Augenblick doch nur ein Rollstuhl.
Ich ließ mich bei Mr. High melden.
»Fühle mich wieder ganz okay, Chef und möchte mich ein wenig an der Suche nach Nelson beteiligen.«
»Ich hörte, dass der Bursche Ihnen geschrieben hat«, sagte Mr. High. »Er möchte Ihnen gern ans Leder.«
Er hob ein Blatt vom Schreibtisch. »Hier ist der Untersuchungsbericht des Labors. Nelson hat sich keine Mühe gegeben, die Fingerabdrücke zu verwischen. Warum sollte er auch? Auf dem Umschlag sind eine große Anzahl von Abdrücken, darunter die einer Frau. Es wäre natürlich möglich, dass sie von einer Postangestellten stammen, aber vielleicht sollten wir doch
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