Der dunkle Wächter
dem Weg zum Kommissariat waren die Straßen auf einmal voller Feuerwehrwagen. Man konnte das Feuer in der Luft riechen. Die Polizisten, die mich begleiteten, machten einen Umweg, und da konnte ich es sehen: Am Horizont brannte Daniel Hoffmanns Fabrik. Es war einer der schrecklichsten Brände, die Paris in seiner Geschichte erlebt hatte. Die Menschen, die das Gebäude nie wahrgenommen hatten, starrten auf diese Kathedrale aus Feuer. Und da erinnerten sich alle an den Namen der Person, die einmal Träume in ihre Kinderherzen gesät hatte: Daniel Hoffmann. Der Palast des Herrschers brannte…
Die Flammen und die schwarze Rauchsäule stiegen drei Tage und drei Nächte in den Himmel, als hätte sich im dunklen Herzen der Stadt die Pforte der Hölle aufgetan. Ich war dort und habe es mit eigenen Augen gesehen. Tage später, als nur noch Asche von dem eindrucksvollen Gebäude kündete, das einmal dort gestanden hatte, verbreiteten die Zeitungen die Meldung.
Nach einiger Zeit machten die Behörden einen Verwandten meiner Mutter ausfindig, der sich meiner annahm, und ich zog zu seiner Familie nach Cap d’Antibes. Dort wuchs ich auf und ging zur Schule. Ein normales, glückliches Leben, wie Daniel Hoffmann es mir versprochen hatte. Ich erlaubte mir sogar, eine Variante meiner Vergangenheit zu ersinnen, um sie mir selbst zu erzählen: Die Geschichte, die ich auch Ihnen erzählt habe.
An meinem achtzehnten Geburtstag erhielt ich einen Brief. Er war acht Jahre zuvor im Postamt von Montparnasse abgestempelt worden. Darin teilte mein alter Freund mir mit, in der Anwaltskanzlei eines gewissen Monsieur Gilbert Travant in Fontainebleau seien die Dokumente für ein Anwesen an der Küste der Normandie hinterlegt, das mit Vollendung der Volljährigkeit rechtmäßig in meinen Besitz übergehe. Die Nachricht auf Büttenpapier war mit einem »D« gezeichnet.
Erst einige Jahre später nahm ich Cravenmoore in Besitz. Damals war ich bereits ein aufstrebender Ingenieur. Meine Spielzeugentwürfe übertrafen alles, was man zur damaligen Zeit kannte. Bald wurde mir klar, dass die Zeit gekommen war, meine eigene Fabrik zu gründen. In Cravenmoore. Alles geschah genau so, wie es mir angekündigt worden war. Alles, bis sich der
Zwischenfall
ereignete. Es geschah an einem 13.Februar an der Porte Saint Michel. Sie hieß Alexandra Alma Maltisse und war das schönste Geschöpf, das ich jemals gesehen hatte.
In all diesen Jahren hatte ich stets den Flakon aufbewahrt, den Daniel Hoffmann mir in jener Nacht in dem Keller in der Rue des Gobelins übergeben hatte. Er fühlte sich noch genauso kalt an wie damals. Sechs Monate später brach ich das Versprechen, das ich Daniel Hoffmann gegeben hatte, und schenkte mein Herz diesem jungen Mädchen. Ich heiratete sie. Es war der glücklichste Tag meines Lebens. In der Nacht vor der Hochzeit, die auf Cravenmoore stattfinden sollte, nahm ich den Flakon mit meinem Schatten und ging zu den Klippen am Kap. Von dort warf ich ihn ins dunkle Wasser, um ihn für immer dem Vergessen anheimzugeben.
Natürlich brach ich mein Versprechen…«
Die Sonne senkte sich bereits über die Bucht, als Ismael und Irene durch die Bäume hindurch die Rückseite des Hauses am Kap erkennen konnten. Die Erschöpfung der beiden schien sich unauffällig an einen nicht allzu fernen Ort zurückgezogen zu haben, um in einem geeigneteren Moment zurückzukehren. Ismael hatte schon einmal von diesem Phänomen gehört, eine Art zweite Luft, wie sie Sportler bekamen, wenn sie die Grenze ihrer eigenen Leistungsfähigkeit überschritten. War dieser Punkt einmal überwunden, machte der Körper einfach weiter, ohne Anzeichen von Ermüdung zu zeigen. Natürlich nur, bis der Motor anhielt. War die Anstrengung vorüber, folgte die Strafe auf dem Fuße. Eine Bringschuld der Muskeln, sozusagen.
»Woran denkst du?«, fragte Irene, als sie die nachdenkliche Miene des Jungen bemerkte.
»Daran, dass ich Hunger habe.«
»Und ich erst mal. Ist das nicht seltsam?«
»Im Gegenteil. Nichts macht solchen Appetit wie ein ordentlicher Schreck…« scherzte Ismael.
Das Haus am Kap lag still da, nichts deutete darauf hin, dass jemand dort war. Zwei Reihen trockener Wäsche flatterten an der Leine im Wind. Ismael erhaschte aus den Augenwinkeln einen kurzen Blick auf etwas, bei dem es sich um Irenes Unterwäsche zu handeln schien. In Gedanken malte er sich aus, wie sie wohl darin aussehen mochte.
»Bist du in Ordnung?«, erkundigte sie sich.
Der Junge
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