Der dunkle Wächter
schluckte, aber er nickte.
»Nur müde und hungrig, das ist alles.«
Irene warf ihm ein unergründliches Lächeln zu. Für eine Sekunde erwog Ismael die Möglichkeit, dass alle Frauen insgeheim in der Lage sein könnten, Gedanken zu lesen. Besser, sich nicht mit leerem Magen solchen Überlegungen hinzugeben.
Das Mädchen versuchte die Hintertür des Hauses zu öffnen, aber offenbar hatte jemand von innen den Riegel vorgeschoben. Irenes Lächeln wich einer besorgten Miene.
»Mama? Dorian?«, rief sie, während sie einige Schritte zurücktrat und zu den Fenstern im ersten Stock hinaufsah.
»Versuchen wir es vorne«, sagte Ismael.
Sie folgte ihm ums Haus herum zur Veranda. Ein Teppich aus zerbrochenem Glas breitete sich vor ihren Füßen aus. Die beiden blieben stehen, und ihr Blick fiel auf die zerstörte Tür und die zerborstenen Fenster. Auf den ersten Blick sah es so aus, als hätte eine Gasexplosion die Tür aus den Angeln gehoben und einen Scherbenregen nach draußen geschleudert. Irene versuchte gegen die Kälte anzukämpfen, die aus ihrem Magen hochkroch. Vergeblich. Sie warf Ismael einen verängstigten Blick zu und wollte ins Haus gehen. Er hielt sie wortlos zurück.
»Madame Sauvelle?«, rief er von der Veranda aus.
Seine Stimme verhallte in der Tiefe des Hauses. Ismael ging vorsichtig hinein und sah sich die Lage an. Irene erschien hinter ihm. Der Aufschrei des Mädchens ging durch Mark und Bein.
Falls es ein Wort gab, um den Zustand des Hauses zu beschreiben, dann war es Verwüstung. Ismael hatte noch nie die Auswirkungen eines Tornados gesehen, aber er stellte sich vor, dass es so ähnlich aussehen musste wie das, was er hier vor sich hatte.
»Mein Gott…«
»Vorsicht mit den Scherben«, warnte der Junge.
»Mama!«
Der Schrei hallte durchs Haus, wie ein Geist, der von Zimmer zu Zimmer schwebte. Ohne Irene auch nur eine Sekunde loszulassen, trat Ismael an die Treppe und warf einen Blick in den oberen Stock.
»Gehen wir rauf«, sagte sie.
Sie gingen langsam die Treppe hinauf, während sie die Spuren betrachteten, die eine unsichtbare Kraft ringsum hinterlassen hatte. Irene bemerkte zuerst, dass Simones Schlafzimmer keine Tür mehr hatte.
»Nein…«, murmelte sie.
Ismael trat rasch in den Türrahmen und sah hinein. Nichts. Dann durchsuchten die beiden nacheinander sämtliche Zimmer im ersten Stock. Gähnende Leere.
»Wo sind sie?«, fragte das Mädchen mit bebender Stimme.
»Hier ist niemand. Lass uns wieder runtergehen.«
Soweit er sehen konnte, war der Kampf oder was auch immer dort stattgefunden hatte, heftig gewesen. Der Junge behielt seine Beobachtungen für sich, aber ein dunkler Verdacht hinsichtlich des Schicksals von Irenes Familie ging ihm durch den Kopf. Das Mädchen, das noch unter Schock schien, stand lautlos weinend am Fuß der Treppe. In ein paar Minuten würde die Hysterie einsetzen, dachte Ismael. Besser er überlegte sich etwas, und zwar schnell, bevor es so weit war. Er ging in Gedanken ein Dutzend Möglichkeiten durch, eine sinnloser als die andere, als beide zum ersten Mal das Klopfen hörten. Dann war es wieder totenstill.
Irene blickte aus verweinten Augen auf und sah Ismael fragend an. Der Junge nickte und hob einen Finger, um ihr zu bedeuten, dass sie still sein solle. Das Klopfen wiederholte sich, hart und metallisch hallte es durchs Haus. Ismael brauchte einige Sekunden, bis er diese dumpfen, dunklen Schläge einordnen konnte. Metall. Etwas oder jemand schlug irgendwo im Haus auf ein Stück Metall. Das Geräusch wiederholte sich regelmäßig. Ismael spürte das Vibrieren unter seinen Füßen, und sein Blick fiel auf eine verschlossene Tür im Flur, der in die Küche im rückwärtigen Teil des Hauses führte.
»Wohin führt diese Tür?«
»In den Keller…«, antwortete Irene.
Der Junge ging zu der Tür und presste sein Ohr an das Holz, um zu lauschen. Das Klopfen erklang zum wiederholten Mal. Ismael versuchte die Tür zu öffnen, aber sie war verriegelt.
»Ist da jemand?«, rief er.
Schritte waren zu hören, die leise die Treppe hinaufkamen.
»Sei vorsichtig«, sagte Irene.
Ismael entfernte sich von der Tür. Für einen Moment schoss ihm das Bild des Engels durch den Kopf, der aus dem Keller hervorstürzte. Doch auf der anderen Seite war nur leise eine gebrochene Stimme zu vernehmen. Irene sprang auf und rannte zur Tür.
»Dorian?«
Die Stimme stammelte etwas.
Irene sah Ismael an und nickte.
»Es ist mein Bruder…«
Der Junge stellte fest, dass
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