Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der dunkle Wächter

Der dunkle Wächter

Titel: Der dunkle Wächter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
Vom Netzwerk:
ganze Welt unwirklicher Kreaturen regte sich in den Vitrinen, baumelte an Mobiles, die sich in der Luft drehten. Es war unmöglich, den Blick irgendwohin zu wenden, ohne eine von Lazarus’ Schöpfungen in Bewegung zu sehen. Uhrengesichter, Puppen, die wie Schlafwandler umhergingen, gespenstische Fratzen mit einem hungrigen Wolfsgrinsen…
    »Diesmal trennst du dich aber nicht von mir«, sagte Irene.
    »Das hatte ich nicht vor«, erwiderte Ismael, bedrückt von all den zappelnden Wesen ringsum.
    Sie waren erst ein paar Meter weit gekommen, als das Hauptportal mit Wucht hinter ihnen zufiel. Irene schrie auf und klammerte sich an den Jungen. Die hünenhafte Gestalt eines Mannes stand vor ihnen. Sein Gesicht war von einer Maske bedeckt, die einen teuflischen Clown darstellte. Zwei grüne Pupillen funkelten unter der Maske hervor. Die beiden wichen zurück, während die Erscheinung immer näher kam. Ein Messer blitzte in ihren Händen. Irene kam schlagartig der mechanische Butler in den Sinn, der ihnen bei ihrem ersten Besuch auf Cravenmoore die Tür geöffnet hatte. Christian. Das war sein Name. Der Automat erhob das Messer.
    »Nein, Christian!«, schrie Irene. »Nein!«
    Der Butler erstarrte. Das Messer fiel ihm aus den Händen. Ismael sah das Mädchen verständnislos an. Die Figur beobachtete sie reglos.
    »Schnell!«, drängte das Mädchen und lief tiefer ins Haus hinein.
    Ismael rannte hinter ihr her, nicht ohne zuvor das Messer aufzuheben, das Christian fallen gelassen hatte. Er holte Irene unter der hohen Kuppel ein, die sich über der Treppenhalle wölbte. Das Mädchen sah sich um und versuchte sich zu orientieren.
    »Wohin jetzt?«, fragte Ismael, während er immer wieder zurückschaute.
    Irene zögerte, unentschlossen, welchen Weg durch das Labyrinth von Cravenmoore sie einschlagen sollten.
    Plötzlich wurden sie von einem kalten Windstoß aus einem der Korridore erfasst, und der metallische Klang einer Grabesstimme drang zu ihnen herüber.
    »Irene…«, flüsterte die Stimme.
    Dem Mädchen gefror das Blut in den Adern. Die Stimme war erneut zu hören. Irene starrte ans Ende des Korridors. Ismael folgte ihrem Blick, und da sah er sie. In feinen Nebel gehüllt, schwebte Simone mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. Ein teuflischer Glanz lag in ihren Augen. Hinter ihren pergamentenen Lippen blitzten stählerne Reißzähne hervor.
    »Mama«, schluchzte Irene.
    »Das ist nicht deine Mutter«, sagte Ismael und schob das Mädchen aus der Bahn dieser Kreatur.
    Licht fiel auf ihr Gesicht und zeigte es in seiner ganzen Entsetzlichkeit. Ismael warf sich auf Irene, um den Krallen des Automaten auszuweichen. Das Geschöpf drehte sich um die eigene Achse und kam erneut auf sie zu. Das Gesicht war nur halb fertiggestellt. Die andere Hälfte war nichts weiter als eine Metallmaske.
    »Es ist die Puppe, die wir gesehen haben. Nicht deine Mutter«, sagte der Junge, der versuchte, das Mädchen aus der Erstarrung zu reißen, die die Erscheinung in ihr ausgelöst hatte. »Dieses Wesen bewegt sie, als ob sie Marionetten wären…«
    Der Mechanismus, der den Automaten hielt, ließ ein Quietschen vernehmen. Ismael konnte sehen, wie die Krallen erneut auf sie zuschossen. Der Junge packte Irene und lief davon, ohne genau zu wissen, wohin. So schnell ihre Füße sie trugen, rannten sie einen Flur entlang. Dieser war gesäumt von Türen, die aufflogen, wenn sie vorbeikamen; Schemen lösten sich von der Decke.
    »Schnell!«, schrie Ismael, als er das Knarren der Halteseile hinter sich hörte.
    Irene drehte sich um und blickte zurück. Das Raubtiergebiss dieser monströsen Nachbildung ihrer Mutter schnappte zwanzig Zentimeter vor ihrem Gesicht zu. Fünf nadelspitze Krallen fuhren auf ihr Gesicht zu. Ismael zog sie beiseite und stieß sie in einen, so schien es, sehr großen, dunklen Raum.
    Das Mädchen fiel der Länge nach hin, und Ismael schlug die Tür hinter sich zu. Die Krallen des Automaten bohrten sich durch die Tür wie tödliche Pfeilspitzen.
    »Mein Gott…«, seufzte er. »Nicht noch mal…«
    Irene blickte auf. Ihre Haut war weiß wie Papier.
    »Bist du in Ordnung?«, fragte Ismael sie.
    Das Mädchen nickte abwesend und sah sich dann um. Bücherwände wuchsen schier endlos in die Höhe. Tausende und Abertausende von Büchern formten eine babylonische Spirale, ein Labyrinth aus Leitern und Laufgängen.
    »Wir sind in Lazarus’ Bibliothek.«
    »Na, dann hoffe ich, dass es noch einen zweiten Ausgang gibt. Ich habe nämlich nicht

Weitere Kostenlose Bücher