Der dunkle Wächter
sondern starrte einfach geradeaus.
Der Inspektor trat das Gaspedal ganz durch.
Der Schatten wandte sich um. Als er Lazarus sah, ließ er Ismael wie ein lebloses Bündel fallen. Der Junge krachte heftig zu Boden und unterdrückte einen Schmerzensschrei. Irene rannte zu ihm.
»Bring ihn hier weg«, sagte Lazarus, während er langsam auf den zurückweichenden Schatten zuging.
Ismael bemerkte einen stechenden Schmerz in der Schulter und stöhnte.
»Bist du in Ordnung?«, fragte das Mädchen.
Der Junge murmelte etwas Unverständliches, aber er stand auf und nickte. Lazarus warf ihnen einen durchdringenden Blick zu.
»Nehmt sie mit und verschwindet von hier«, befahl er.
Der Schatten vor ihm zischte wie eine Schlange vor ihrer Beute. Plötzlich sprang er an die Wand und wurde wieder von dem Bild verschluckt.
»Ihr sollt verschwinden, habe ich gesagt!«, brüllte Lazarus.
Ismael und Irene packten Simone und schleiften sie zur Tür. Bevor sie gingen, drehte sich Irene noch einmal zu Lazarus um und sah, wie der Spielzeugfabrikant an das Himmelbett trat und mit unendlicher Sanftheit die Vorhänge zur Seite schlug. Dahinter war die Gestalt einer Frau zu erkennen.
»Warte…« flüsterte Irene, während sich ihr Herz verkrampfte.
Es musste Alma sein. Ein Schauder durchlief ihren Körper, als sie die Tränen auf Lazarus’ Gesicht bemerkte. Der Spielzeugfabrikant umarmte Alma. Noch nie im Leben hatte Irene gesehen, wie jemand einen anderen mit solcher Zartheit umarmte. Jede Geste, jede Bewegung von Lazarus verrieten eine Liebe und eine Zärtlichkeit, die nur aus lebenslanger Bewunderung erwachsen sein konnten. Almas Arme umschlangen ihn ebenfalls, und für einen magischen Moment waren beide in der Finsternis vereint, fernab von dieser Welt. Irene war den Tränen nahe, doch dann zeigte sich ihnen eine neue, bedrohliche Schreckensvision.
Der Schatten kroch langsam aus dem Bild und zum Bett hinüber. Panik befiel das Mädchen.
»Vorsicht, Lazarus!«
Der Spielzeugfabrikant drehte sich um und sah, wie sich der Schatten rasend vor Wut vor ihm aufrichtete. Er hielt dem Blick dieses Höllenwesens stand, ohne Angst zu zeigen. Dann blickte er zu ihnen beiden herüber; seine Augen schienen Botschaften auszusenden, die sie nicht verstanden. Plötzlich begriff Irene, was Lazarus vorhatte.
»Nein!«, schrie sie, während sie merkte, dass Ismael sie zurückhielt.
Der Spielzeugfabrikant ging auf den Schatten zu.
»Du wirst sie mir nicht noch einmal nehmen…«
Der Schatten erhob eine seiner Klauen, um seinen Herrn zu attackieren. Lazarus griff in die Tasche seines Jacketts und zog einen glänzenden Gegenstand hervor. Einen Revolver.
Das Gelächter des Schattens hallte durch den Raum wie das Keckern einer Hyäne.
Lazarus drückte den Abzug. Ismael starrte ihn verständnislos an. Der Spielzeugfabrikant sah mit einem leisen Lächeln zu ihm, dann entglitt der Revolver seinen Händen. Ein dunkler Fleck breitete sich auf seiner Brust aus. Blut.
Der Schatten brach in ein Geheul aus, das das gesamte Haus erschütterte. Es war ein Schrei des Entsetzens.
»Mein Gott…«, wimmerte Irene.
Ismael eilte Lazarus zu Hilfe, doch der hielt ihn mit einer Handbewegung zurück.
»Nein. Lasst mich bei ihr. Und verschwindet von hier…«, flüsterte er, und ein Blutrinnsal floss aus seinem Mundwinkel.
Ismael stützte ihn und brachte ihn zum Bett. Der Anblick ihres bleichen, traurigen Gesichts traf ihn wie ein Schlag. Ismael stand Alma Maltisse von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Ihre tränenumflorten Augen blickten ihn starr an, in einem Schlaf verloren, aus dem sie nie erwachen würde.
Eine Maschine.
In all diesen Jahren hatte Lazarus mit einer Maschine gelebt, um die Erinnerung an seine Frau lebendig zu halten, die Erinnerung, die ihm der Schatten genommen hatte.
Wie benommen trat Ismael einen Schritt zurück. Lazarus sah ihn flehend an.
»Lass mich mit ihr allein… Bitte.«
»Aber es ist nur eine… eine…«, setzte Ismael an.
»Sie ist alles, was ich habe…«
Dem Jungen wurde klar, warum man die Leiche der Frau, die vor der Leuchtturminsel ertrunken war, nie gefunden hatte. Lazarus hatte sie aus dem Wasser gefischt und ihr wieder Leben eingehaucht, ein nichtvorhandenes, mechanisches Leben. Unfähig, sich mit der Einsamkeit und dem Verlust seiner Frau abzufinden, hatte er aus ihrem Körper ein Phantom geschaffen, ein trauriges Ebenbild, mit dem er in den vergangenen zwanzig Jahren zusammengelebt hatte. Und als er in
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