Der dunkle Wächter
Mädchen.
»Da entlang wohin?«, fragte Ismael nervös.
»Ich glaube, ich weiß, wo er sie festhält.«
Der Junge blickte über die Schulter zurück. Der Korridor lag im Dunkeln, ohne ein sichtliches Zeichen von Bewegung, obwohl Ismael klar war, dass der Schatten sich aus dieser Richtung nähern konnte, ohne dass sie ihn bemerkten.
»Ich hoffe, du weißt, was du tust«, sagte er. Er wollte so schnell wie möglich von dort weg.
»Komm.«
Irene betrat einen der Seitenflügel, der sich in der Dunkelheit verlor, und Ismael folgte ihr. Allmählich wurde das Licht der Laterne schwächer, und die Umrisse der mechanischen Geschöpfe, die den Korridor säumten, verwandelten sich in dunkel glänzende Schemen. Ihre Schritte gingen in dem Plappern, Lachen und Hämmern Hunderter mechanischer Räderwerke unter. Der Junge wandte sich erneut um und spähte zum Anfang dieses Tunnels, den sie entlanggingen. Ein kalter Lufthauch zog durch den Gang. Als er sich umsah, erkannte Ismael die Gazevorhänge wieder, die vor ihnen wehten, bestickt mit einem Buchstaben, der sich sanft wiegte.
A
»Ich bin sicher, dass er sie hier festhält«, sagte Irene. Hinter den Vorhängen war am Ende des Korridors die geschnitzte Holztür zu sehen. Sie war geschlossen. Erneut umfing sie ein kalter Lufthauch, der die Vorhänge in Bewegung brachte. Ismael blieb stehen und starrte in die schwarze Finsternis. Angespannt versuchte er, etwas zu erkennen.
»Was ist los?«, fragte Irene, als sie die Unruhe bemerkte, die sich seiner bemächtigt hatte.
Der Junge öffnete den Mund, um zu antworten, doch er blieb stumm. Sie spähte in den Korridor hinter ihnen. Ein kleiner Lichtpunkt am Ende des Tunnels. Der Rest war Dunkelheit.
»Er ist da«, sagte Ismael. »Er beobachtet uns.«
Irene klammerte sich an ihn.
»Spürst du es nicht?«
»Lass uns nicht länger hierbleiben, Ismael.«
Er nickte, doch in Gedanken war er woanders. Irene nahm ihn bei der Hand und zog ihn zu der Tür. Der Junge behielt die ganze Zeit den Gang hinter ihnen im Auge. Als das Mädchen schließlich vor der Tür stehen blieb, wechselten die beiden einen Blick. Wortlos legte Ismael die Hand auf den Türknauf und drehte ihn vorsichtig. Das Schloss gab mit einem leisen metallischen Klicken nach, und durch das Gewicht des schweren Türblatts schwang die Tür an den Angeln nach innen.
Ein flüchtiger blauer Dunst lag über dem Raum, nur durchbrochen von dem scharlachroten Flackern des Feuers.
Irene trat ein paar Schritte ins Zimmer. Alles war genau so, wie sie es in Erinnerung hatte. Das große Porträtbild von Alma Maltisse leuchtete über dem Kamin. Lichtreflexe tasteten sich durch die dichte Atmosphäre des Zimmers und deuteten die Umrisse der Vorhänge aus durchscheinender Seide an, die das Himmelbett verhüllten. Ismael schloss vorsichtig die Tür hinter sich und folgte Irene.
Das Mädchen hielt ihn am Arm zurück. Sie deutete auf einen Lehnsessel, der mit dem Rücken zu ihnen vor dem Feuer stand. Über eine der Lehnen hing eine bleiche Hand, die wie eine verwelkte Blume auf den Boden gesunken war.
Daneben blitzten Glasscherben in einer Pfütze aus Flüssigkeit wie glitzernde Perlen auf einem Spiegel. Irene spürte, wie ihr Herz zu rasen begann. Sie ließ Ismaels Hand los und ging Schritt für Schritt auf den Sessel zu. Das flackernde Licht der Flammen beschien ein regloses Gesicht: Simone.
Irene kniete neben ihrer Mutter nieder und nahm ihre Hand. Sekundenlang gelang es ihr nicht, ihren Puls zu ertasten.
»Oh mein Gott…«
Ismael stürzte zum Schreibtisch und griff nach einem kleinen Silbertablett. Dann lief er zu Simone und hielt es ihr vors Gesicht. Eine schwache Dunstwolke beschlug die Oberfläche. Irene atmete tief durch.
»Sie lebt«, sagte Ismael. Er betrachtete das Gesicht der bewusstlosen Frau und glaubte in ihr eine gereifte, weise Irene wiederzuerkennen.
»Wir müssen sie hier wegbringen. Hilf mir mal.«
Sie postierten sich zu beiden Seiten von Simone, umfassten sie mit den Armen und versuchten sie aus dem Sessel hochzuziehen.
Sie hatten sie kaum einige Zentimeter hochgehievt, als im Zimmer ein tiefes, unheimliches Zischeln zu vernehmen war. Die beiden hielten inne und blickten sich um. Das Feuer vervielfachte ihre eigenen Schatten an den Wänden.
»Wir dürfen keine Zeit verlieren«, drängte Irene.
Ismael hob Simone erneut hoch, doch diesmal war das Geräusch schon viel näher zu hören. Seine Augen irrten durch die Dunkelheit. Das Porträt! Mit einem
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