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Der dunkle Wächter

Der dunkle Wächter

Titel: Der dunkle Wächter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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einem einzigen Körper, der zur Tür kroch und auf der anderen Seite verschwand.
    »Das Feuer. Das Feuer macht ihm Angst…«, sagte Irene.
    »Dann werden wir ihm genau das geben.«
    Ismael hob die Kerze wieder auf und stellte sie vor den Türspalt, während sich Irene in dem Raum umsah, in dem sie sich befanden. Er wirkte wie ein kahler Vorraum, unmöbliert und von jahrzehntealtem Staub bedeckt. Vielleicht hatte diese Kammer irgendwann einmal als Lagerraum oder zusätzliches Archiv der Bibliothek gedient. Bei genauerem Hinsehen allerdings waren Formen an der Decke zu erkennen. Dünne Rohre. Irene nahm eine Kerze und hielt sie über ihren Kopf, um den Raum zu untersuchen. Fliesen und Mosaike erstrahlten im Kerzenschein an den Wänden.
    »Wo zum Teufel sind wir?«, fragte Ismael.
    »Ich weiß es nicht. Sieht aus wie Duschen…«
    Das Licht der Kerze fiel auf die Metallbrausen, trichterförmige Gebilde mit Hunderten von Löchern, in denen die Rohre ausliefen. Die Öffnungen waren verrostet und von einer Festung aus Spinnweben überzogen.
    »Was auch immer das sein soll, hier hat seit Jahrhunderten keiner mehr…«
    Er hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, als ein metallisches Kreischen zu vernehmen war, das unverwechselbare Geräusch eines verrosteten Wasserhahns, der aufgedreht wurde. Dort drinnen, direkt neben ihnen.
    Irene leuchtete mit der Kerze an die gekachelte Wand, und die beiden sahen zwei Zugangshähne, die sich langsam drehten.
    Ein tiefes Brummen lief durch die Wände. Dann, nach einigen Sekunden Stille, konnten sie das Geräusch zuordnen. Es war das Geräusch von etwas, das durch die Rohre über ihren Köpfen kam. Etwas zwängte sich durch die engen Leitungen.
    »Er ist hier!«, schrie Irene.
    Ismael nickte, ohne den Blick von den Brauseköpfen zu wenden. Nach einigen Sekunden begann eine undurchdringliche Masse aus den Öffnungen zu triefen. Irene und Ismael wichen langsam zurück, ohne den Blick von dem Schatten zu wenden, der sich langsam vor ihnen aufbaute, so wie die Körner einer Sanduhr einen Berg formen, wenn sie nach unten rieseln.
    Zwei Augen zeichneten sich im Dunkeln ab. Lazarus’ freundliches Gesicht lächelte ihnen entgegen. Ein beruhigender Anblick, hätten sie nicht sofort gewusst, dass es nicht Lazarus war, den sie vor sich hatten. Irene machte einen Schritt auf ihn zu.
    »Wo ist meine Mutter?«, fragte sie herausfordernd.
    Eine tiefe, nicht menschliche Stimme war zu hören.
    »Sie ist bei mir.«
    »Halt Abstand von ihm«, warnte Ismael.
    Der Schatten starrte ihn an, und der Junge schien in Trance zu fallen. Irene schüttelte ihren Freund und wollte ihn von dem Schatten wegziehen, doch er stand noch immer unter dem Einfluss dieses Wesens und war unfähig zu reagieren. Das Mädchen trat zwischen die beiden und gab Ismael eine Ohrfeige, die ihn aus seinem Bann riss. Das Gesicht des Schattens zerschmolz zu einer wütenden Grimasse, und zwei lange Arme streckten sich nach ihnen aus. Irene stieß Ismael gegen die Wand und versuchte dem Griff der Klauen zu entkommen.
    In diesem Augenblick öffnete sich eine Tür in der Dunkelheit, und ein Licht leuchtete am anderen Ende des Raumes auf. Die Gestalt eines Mannes mit einer Öllampe in der Hand zeichnete sich im Türrahmen ab.
    »Raus hier!«, brüllte er, und Irene erkannte seine Stimme. Es war Lazarus Jann, der Spielzeugfabrikant.
    Der Schatten stieß ein hasserfülltes Geheul aus, und die Kerzen verloschen eine nach der anderen. Lazarus ging auf den Schatten zu. Sein Gesicht wirkte viel älter, als Irene es in Erinnerung hatte. Seine geröteten Augen verrieten furchtbare Erschöpfung. Die Augen eines Mannes, der von einer grausamen Krankheit verzehrt wurde.
    »Raus hier!«, brüllte er erneut.
    Der Schatten zeigte kurz seine dämonische Fratze und verwandelte sich dann in eine Gaswolke, die in die Ritzen des Fußbodens kroch und schließlich durch einen Mauerspalt verschwand. Bei seiner Flucht machte er ein Geräusch, das dem Heulen des Windes hinter den Fenstern glich.
    Lazarus beobachtete noch einige Sekunden die Mauerspalte, dann wandte er ihnen seinen durchdringenden Blick zu.
    »Was habt ihr hier zu suchen?«, fragte er, ohne seine Wut zu verbergen.
    »Ich bin hergekommen, um meine Mutter zu suchen, und ich werde nicht ohne sie hier weggehen«, erklärte Irene und hielt seinem eindringlichen, forschenden Blick stand, ohne mit der Wimper zu zucken.
    »Du weißt nicht, mit wem du es zu tun hast…«, sagte Lazarus. »Schnell, dort

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