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Der dunkle Wächter

Der dunkle Wächter

Titel: Der dunkle Wächter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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auf die Stirn küsste. Damals schwor er sich, dass er ihr Geheimnis bis ans Ende seiner Tage für sich behalten würde.
     
    Das erste Tageslicht enthüllte eine Wolke aus Asche, die über die purpurrote Bucht dem Horizont entgegenzog. Als sich in der Morgendämmerung der Nebel über dem Strand des Engländers lichtete, zeichneten sich langsam die Ruinen von Cravenmoore hinter den Wipfeln des Waldes ab. Rauchspiralen stiegen in den Himmel und malten Bahnen aus schwarzem Samt auf die Wolken, durchbrochen nur von Vogelschwärmen, die gen Westen flogen.
    Die Nacht zog sich nur zögerlich zurück, und der kupferfarbene Dunst, der weiter draußen die Leuchtturminsel umhüllte, zerfloss zu einem Truggebilde aus weißen Flügeln, das in der morgendlichen Brise emporschwebte.
    Irene und Ismael saßen im weißen Sand, irgendwo im Nirgendwo, und betrachteten die letzten Minuten jener langen Sommernacht des Jahres 1937. Schweigend hielten sie sich an den Händen und sahen zu, wie die ersten rosaroten Sonnenstrahlen, die durch die Wolken brachen, eine Kette aus glitzernden Perlen übers Meer streuten. Der Leuchtturm ragte dunkel und einsam aus dem Dunst. Ein Lächeln huschte über Irenes Lippen, als sie begriff, dass jene Lichter, die die Einheimischen im Nebel hatten aufleuchten sehen, nun für immer verlöschen würden. Die Septemberlichter waren mit der Morgendämmerung verschwunden.
    Nichts, nicht einmal die Erinnerung an die Ereignisse jenes Sommers, würde die umherirrende, in der Zeit verlorene Seele der Alma Maltisse auf ihrem letzten Weg noch länger aufhalten können. Während die Brandung diese Gedanken davontrug, sah Irene zu Ismael hinüber. Die Andeutung einer Träne glitzerte in seinen Augen, doch das Mädchen wusste, dass er sie niemals weinen würde.
    »Gehen wir nach Hause«, sagte er.
    Irene nickte, und gemeinsam liefen sie am Strand entlang zum Haus am Kap. Dabei ging dem Mädchen nur ein einziger Gedanke durch den Kopf. In einer Welt voller Licht und Schatten mussten alle, musste jeder Einzelne von uns seinen eigenen Weg finden.
    Als Simone ihnen Tage später anvertraute, was ihr der Schatten über die wahre Geschichte von Lazarus Jann und Alma Maltisse erzählt hatte, begannen sich alle Bruchstücke des Rätsels zusammenzufügen. Doch die Tatsache, dass nun Licht auf das fiel, was sich wirklich ereignet hatte, änderte nichts mehr am Lauf der Dinge. Der Fluch hatte Lazarus Jann von seiner tragischen Kindheit bis in den Tod verfolgt. Einen Tod, von dem er im letzten Moment begriff, dass er der einzige Ausweg war. Ihm blieb nichts anderes mehr, als seine letzte Reise anzutreten, um sich wieder mit Alma zu vereinen, nun unerreichbar für seinen Schatten und den bösen Zauber jenes unbekannten Herrschers der Schattenwelt, der sich hinter dem Namen Daniel Hoffmann verbarg. Nicht einmal er würde mit all seiner Macht und seinen Machenschaften jemals das Band zerreißen können, das Lazarus und Alma jenseits von Leben und Tod vereinte.
    Paris, 26.Mai 1947
     
    Lieber Ismael,
    es ist viel Zeit vergangen, seit ich Dir das letzte Mal schrieb. Zu viel Zeit. Vor knapp einer Woche schließlich geschah das Wunder. Alle Briefe, die Du mir in diesen Jahren an meine alte Adresse geschrieben hast, wurden mir durch eine freundliche Nachbarin überbracht, eine alte Frau von fast neunzig Jahren. Sie hatte sie all diese Zeit aufbewahrt in der Hoffnung, irgendwann werde sie jemand abholen kommen.
    In diesen letzten Tagen habe ich sie wieder und wieder gelesen, bis zum Überdruss. Ich habe sie gehütet wie meinen wertvollsten Schatz. Es fällt mir schwer, die Gründe für mein Schweigen, die lange Abwesenheit, zu erklären. Insbesondere Dir, Ismael. Ganz besonders Dir.
    Die beiden Jugendlichen damals am Strand hatten keine Ahnung, dass sich nach dem Morgen, an dem Lazarus Janns Schatten für immer verschwand, ein noch viel schrecklicherer Schatten über die Welt legen würde. Der Schatten des Hasses. Wir alle dachten wohl an jene Worte über Daniel Hoffmann und seine »Aufgabe« in Berlin.
    Als ich in jenen schrecklichen Kriegsjahren den Kontakt zu Dir verlor, schrieb ich Dir Hunderte von Briefen, die nie ankamen. Ich frage mich noch immer, wo sie wohl sind, wo all diese Sätze, all diese Dinge geblieben sind, die ich Dir sagen wollte. Du sollst wissen, dass die Erinnerung an Dich und an jenen Sommer in der Blauen Bucht in diesen furchtbaren Zeiten der Finsternis die Flamme war, die mich am Leben hielt, die Kraft, die mir half,

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