Der dunkle Wächter
Mal verformte sich der Schleier, der das Ölbild überzog, zu einer Platte aus dunkler Flüssigkeit, die Gestalt annahm und zwei lange, in messerscharfen Klauen auslaufende Arme ausstreckte.
Ismael versuchte zurückzuweichen, doch der Schatten schnellte von der Wand wie eine Katze, glitt durch die Dunkelheit und duckte sich hinter ihn. Für einen kurzen Augenblick konnte der Junge nur seinen eigenen Schatten sehen, der ihn beobachtete. Dann wuchs aus den Umrissen seiner eigenen Silhouette eine andere Gestalt hervor, die sich dickflüssig ausdehnte, bis sie seinen eigenen Schatten vollständig verschluckt hatte. Der Junge merkte, wie Simones Körper seinen Armen entglitt. Eine kräftige Faust aus eiskaltem Gas umklammerte seinen Hals und schleuderte ihn mit gewaltiger Kraft gegen die Wand.
»Ismael!«, schrie Irene.
Der Schatten wandte sich ihr zu. Das Mädchen rannte ans andere Ende des Zimmers, doch die Dunkelheit zu ihren Füßen umschloss sie wie eine tödliche Blume. Sie spürte die eisige, schaudererregende Berührung des Schattens, der ihren Körper umhüllte und ihre Muskeln lähmte. Vergeblich versuchte sie sich zur Wehr zu setzen, während sie entsetzt zusah, wie sich von der Decke ein Tuch aus Finsternis herabsenkte, das allmählich die vertrauten Formen von Hannahs Gesicht annahm. Das gespenstische Ebenbild warf ihr einen hasserfüllten Blick zu, und zwischen den düsteren Lippen blitzten lange, feucht glänzende Reißzähne auf.
»Du bist nicht Hannah«, sagte Irene mit versagender Stimme.
Der Schatten schlug ihr ins Gesicht, und eine Schnittwunde klaffte in ihrer Wange. Die Blutstropfen, die aus der Wunde hervorquollen, wurden augenblicklich von dem Schatten absorbiert, als würden sie von einer starken Luftströmung angesogen. Zwei lange, spitze Krallen kamen langsam auf ihre Augen zu.
Als sich Ismael, noch benommen von dem Aufprall, wieder aufrappelte, hörte er die raue, bösartige Stimme. Der Schatten stand mitten im Raum und hatte Irene gepackt, bereit, sie zu vernichten. Der Junge schrie auf und warf sich gegen die Masse. Sein Körper ging einfach so hindurch, und der Schatten zersprang in Tausende winziger Tröpfchen, die wie ein Schauer aus flüssiger Kohle zu Boden prasselten. Ismael zog Irene hoch und brachte sie außer Reichweite des Schattens. Dessen Bestandteile verschmolzen auf dem Fußboden zu einem Wirbel, der die Möbelstücke ringsum erschütterte und als tödliche Geschosse gegen Wände und Fenster schleuderte.
Ismael und Irene warfen sich auf den Boden. Der Schreibtisch flog durch eine der Fensterscheiben und pulverisierte sie dabei förmlich. Ismael wälzte sich auf Irene, um sie vor den Scherben zu schützen. Als er wieder hochsah, nahm der dunkle Strudel festere Formen an. Zwei riesige schwarze Flügel breiteten sich aus, und der Schatten erschien wieder, größer und stärker denn je. Er hob eine seiner Klauen und zeigte die offene Handfläche. Zwei Augen und Lippen waren darauf zu sehen.
Ismael zog erneut sein Messer und hielt es der Erscheinung entgegen, während er sich vor Irene stellte. Der Schatten richtete sich auf und kam auf sie zu. Seine Faust umklammerte die Messerklinge. Ismael spürte, wie ein eisiger Strom seine Finger und seine Hand durchfuhr und seinen Arm lähmte.
Die Waffe fiel zu Boden, und der Schatten hüllte den Jungen ein. Irene versuchte vergeblich, ihn festzuhalten. Der Schatten zerrte Ismael zum Feuer.
In diesem Moment öffnete sich die Tür, und die Gestalt von Lazarus Jann erschien auf der Schwelle.
Das gespenstische Licht, das aus dem Wald drang, brach sich in der Windschutzscheibe des Polizeiautos, das den Konvoi anführte. Hinter ihm rasten Doktor Girauds Wagen und ein bei der Klinik von La Rochelle angeforderter Rettungswagen über die Straße am Strand des Engländers.
Dorian, der neben Chefinspektor Henri Faure saß, bemerkte als Erster den goldenen Lichtschein, der durch die Bäume drang. Hinter dem Wald waren die Umrisse von Cravenmoore zu erkennen, ein riesiges, geisterhaftes Karussell im Nebel.
Der Inspektor runzelte die Stirn und betrachtete diese Erscheinung, die er in den zweiundfünfzig Jahren, die er in diesem Dorf lebte, noch nie gesehen hatte.
»Schneller!«, flehte Dorian.
Der Inspektor sah den Jungen an, und während er beschleunigte, begann er sich zu fragen, ob an der Geschichte von diesem angeblichen Unfall irgendetwas dran war.
»Gibt es da etwas, das du uns nicht erzählt hast?«
Dorian gab keine Antwort,
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